I predict a riot – Die Psychologie der Krawalle

Seit einigen Tagen kommt es in Großbritannien immer wieder zu schweren Ausschreitungen, vier Tote und mehrere Hundert Verletzte gab es bislang. Da stellt sich die Frage: Warum verhalten Menschen sich so?

Alles begann mit einer Kugel. Am vergangenen Donnerstag starb der 29-jährige Brite Mark Duggan in Tottenham bei einem Polizeieinsatz. Das tragische Ereignis war so etwas wie der „Tipping Point“ der Proteste – seitdem hat die Gewaltbereitschaft dramatisch zugenommen. Autos wurden in Brand gesteckt, Geschäfte geplündert, Häuser verwüstet.

Um es sofort klar zu stellen: Die Gründe für die Ausschreitungen sind extrem vielschichtig. Die einen machen es an ökonomischen Faktoren wie der hohen Jugendarbeitslosigkeit oder der sozialen Ungleichheit fest: „In Großbritannien sind Löhne und Wohlstand derzeit ungerechter verteilt als zur Zeit der großen Depression im Jahr 1929“, schrieb die Kolumnisten Mary Riddell im „Telegraph“. Die anderen sehen das Problem wahlweise in der Hoffnungslosigkeit von Jugendlichen und Einwanderern oder der falschen Taktik der Polizei.

All diese Erklärungen sind sicher nicht falsch. Bloß: Sie ignorieren die psychologische Komponente des Massenaufruhrs.

Zahlreiche Wissenschaftler haben sich in den vergangenen Jahrzehnten mit der Psychologie von Krawallen beschäftigt – und dementsprechend kursieren einige Theorien darüber, warum sich Menschen plötzlich von friedlichen Bürgern in randalierende Vandalen verwandeln.

Edward Glaeser, Professor an der US-Eliteuniversität Harvard, untersuchte vor einigen Jahren in einer interessanten Studie (.pdf) die Ausschreitungen von Los Angeles im Jahr 1992. Zur Erinnerung: Damals war der dunkelhäutige Amerikaner Rodney King von vier weißen Polizisten verprügelt worden – und diese wurden vom Gericht freigesprochen. Wenige Stunden nach dem Urteil brach in der Stadt das komplette Chaos aus. 53 Menschen starben, 2000 wurden verletzt, der Schaden belief sich auf mehr als eine Milliarde Dollar.

Nach Meinung von Glaeser trugen die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die ethnische Vielfalt in Los Angeles erheblich zu den Ausschreitungen bei. Aber vor allem sah er das Problem in einer Art individuellem ökonomischen Kalkül: Die Menschen erachteten die Chancen, ungestraft zu entkommen, größer als die Gefahren einer Verurteilung. Eine klassische Kosten-Nutzen-Abwägung.

Diese Argumentation ähnelt der so genannten „Broken-Windows-Theorie“. Der Name geht zurück auf einen Artikel des US-Kriminologen George Kelling und des Politikwissenschafters James Wilson in der US-Zeitschrift „Atlantic Monthly“. Darin vertraten die Forscher die Ansicht, dass vermeintlich harmlose äußere Schäden – wie beispielsweise ein zerbrochenes Fenster – die Menschen regelrecht dazu animieren, weitere Schäden anzurichten. Hinzu kommt das Problem der Anonymität: Haben die Bürger das Gefühl, anonym zu sein, dann zeigen sie sich von ihrer schlechtesten Seite und lassen buchstäblich die Sau raus.

Doch diese Argumente erklären die jüngsten Gewaltausbrüche in Großbritannien nur unzureichend. Denn dort kam es auch in vermeintlich „guten“ Gegenden zu Ausschreitungen – und längst nicht nur durch kriminelle Einzeltäter. Wie also lassen sich solche Ereignisse psychologisch erklären?

Soziale Identität

Inzwischen wissen Forscher, dass Handlungen in einer Gruppe durch die so genannte soziale Identität bestimmt werden. Vereinfacht gesagt identifizieren wir uns häufig mit anderen Personen, ohne dass wir es merken. Diese geistige Verbundenheit führt dazu, dass wir uns mindestens mit ihnen solidarisieren, häufig ahmen wir ihre Taten sogar nach. Ein typisches Gruppendenken, man könnte auch sagen Gruppenzwang – in guten wie in schlechten Zeiten. Bei öffentlichen Krawallen äußert sich dieser Zwang nur besonders heftig.

Ausgehend von der sozialen Identität postulierte der britische Psychologe Steve Reicher das „Elaborated Social Identity Model“, das heute als zentrale Theorie der Krawall-Forschung gilt.  Klingt kompliziert, ist aber ganz einfach.

Ein simples Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie fahren spät abends mit dem Bus nach Hause. Sie hatten einen harten Tag und wollen nur noch entspannen. Leider ist der Bus voller Passagiere, darunter betrunkene Jugendliche, gröhlende Fußballballfans und laute Touristen. Eigentlich wollen sie mit keinem anderen reden, geschweige denn irgendetwas zu tun haben – bis der Bus plötzlich von außen mit Steinen beworfen wird. Diebe wollen den Bus anhalten und die Passagiere ausrauben.

Wie Sie reagieren? Sie solidarisieren sich mit den anderen Fahrgästen. Die Bedrohung von außen schweißt sie plötzlich mit den anderen Personen zusammen – obwohl sie ursprünglich nichts von ihnen wissen wollten. Sie haben ihre eigentliche Identität nicht verloren – sondern im Angesicht der Gefahr eine neue dazu gewonnen. Dadurch sind sie zu Dingen fähig, die sie sich unter normalen Umständen noch nicht mal vorstellen könnten.

Ähnlich verhielt sich die Situation offenbar in Großbritannien. Auch dort kam es zu unangemessener oder rücksichtsloser Gewalt der Polizei. Und plötzlich verwandelten sich selbst vermeintlich friedliche Personen in Krawallmacher. Eben weil sie sich als Teil ein und derselben Gruppe sahen, und die Polizei als andere, verfeindete Gruppe.

Umso wichtiger ist die richtige Strategie der Ordnungshüter. Auch wenn es grotesk klingt: Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sie aktiv auf die Bürger zugehen und zum Dialog bereit sind, anstatt mit Knüppeln und Wasserwerfen auf alle loszugehen. Denn dadurch machen sie alles nur noch schlimmer.

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