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Christian Stöcker

Woher der Hass kommt Die Ratte in uns

Viel wird darüber gesprochen, warum Herabblicken und Hass auf andere derzeit so populär sind. Es gibt dafür eine einfache psychologische Erklärung - und damit eine Handlungsanweisung für den Umgang mit all der Verachtung.

Wir Menschen halten uns ja für sehr komplexe und tiefgründige Lebewesen. Dieser Vorstellung verdanken wir Selbsterklärungssysteme wie die Psychoanalyse, elaborierte Geschichten darüber, wie unser eigenes Verhalten zustande kommt. Originelle Ideen wie die, dass alle männlichen Kinder mit ihren eigenen Müttern schlafen wollen. Oder die, dass es eine enge Beziehung zwischen dem Stuhlgang von Kleinkindern und späterer Ordnungsliebe gibt. Stichwort "analer Charakter". (Liebe Psychoanalytiker: Ich freue mich schon auf Ihre Forenbeiträge. So wie damals.)

Tatsächlich lassen sich große Teile des menschlichen Verhaltens mit weit schlichteren - und auch weniger unappetitlichen - Modellen erklären. Zum Beispiel reagieren wir, genau wie alle anderen Tiere, auf Belohnung und, wenn auch weniger gut, auf Bestrafung. Und zwar so verlässlich, dass wir ständig falsche Entscheidungen treffen, obwohl wir es eigentlich besser wüssten.

Spielsüchtige zum Beispiel wissen genau, dass die Bank, oder häufiger: der Automat am Ende immer gewinnt. Trotzdem werfen sie Euro um Euro ein. Warum? Weil sie eben ab und an doch mal gewinnen. In der Verhaltenspsychologie nennt man das intermittierende Verstärkung: Wenn das Versuchstier nicht weiß, wann die nächste Belohnung kommt, drückt es besonders hartnäckig und ausdauernd immer weiter auf den Hebel, in der Hoffnung, dass die Skinner-Box doch noch mal eine Futterpille ausspuckt. Nur dass die Ratten, mit denen solche Experimente ursprünglich durchgeführt wurden, kein Geld einwarfen.

Ja: Ratten. Sorry. So schlicht sind wir in mancher Hinsicht.

Dummerweise sind gerade die Belohnungen, die leicht zu bekommen und zu konsumieren sind, auch die mit den fiesesten Nebenwirkungen. Alkohol zum Beispiel. Zucker. Nikotin. Mario Barth. Gut, Letzterer wirkt glücklicherweise nicht auf jedermann belohnend.

Geld oder Liebe

All das hat nicht notwendigerweise mit Dummheit zu tun: Einige der intelligentesten Menschen der Geschichte waren Alkoholiker oder Spielsüchtige. Die Ratte in uns setzt sich, wenn es dumm läuft, auch gegen den stärksten Intellekt durch.

Die ultimative Belohnung ist in der kapitalistischen Gegenwart natürlich Geld, weil man sie gegen fast jede andere Belohnung eintauschen kann, außer der besten, wichtigsten und nachhaltigsten: Liebe.

Eine andere Belohnung dagegen ist praktisch für jedermann und auf den ersten Blick völlig kostenlos zu haben. Und damit nähern wir uns der Frage, woher all der Hass kommt, der unsere Gesellschaften im Moment zu zerfressen scheint.

Die Sozialpsychologie kennt eine einfache Methode, mit der sich nahezu jeder Mensch in nahezu jeder Situation gleich ein bisschen besser fühlen kann. Diese Methode heißt, wenig elegant, abwärtsgerichteter sozialer Vergleich.

Es wirkt auf Menschen belohnend, auf andere herabzublicken. Das ist kein schöner Wesenszug, aber in bestimmten, klar umgrenzten Bereichen ein durchaus zielführender: In meine Strohhütte regnet es nicht hinein, in deine schon. Auf meinem Feld wächst mehr Weizen, meine Kühe sind fetter als deine - das waren viele Jahrtausende lang durchaus sinnvolle Kriterien für Erfolg. Und sinnvolle Motivatoren für die Unterlegenen, doch endlich mal das Dach zu flicken oder vielleicht vor der Aussaat doch auch mal das Feld zu pflügen. Der ganze Kapitalismus von heute funktioniert nur, weil abwärtsgerichteter sozialer Vergleich - mein Erfolg, dein Misserfolg - ein so effektiver Motivator ist.

Hassen, um sich besser zu fühlen

Unglücklicherweise brauchen wir aber fürs Abwärtsvergleichen gar keine realen, handfesten Begründungen. Es kann schon reichen, jemand anderen einfach nur um des eigenen Wohlbefindens willen blöd zu finden.

Auf dieser Form des abwärtsgerichteten sozialen Vergleichs - ich erhebe mich über dich, weil du einer aus meiner Sicht niederen Gruppe angehörst - basieren ganze Staatsgebilde und politische Systeme. Der politisch-gesellschaftliche Kulminationspunkt des abwärtsgerichteten sozialen Vergleichs ist der Faschismus: Ganze Völker erklären sich selbst für wertvoller, andere für minderwertig. Solche Ideologien bringen Begriffe wie "Untermensch" hervor, gewissermaßen der begriffgewordene abwärtsgerichtete soziale Vergleich. Am Ende, so paradox das klingt, hassen Menschen andere Menschen - Juden, Schwarze, "Ausländer", wen auch immer - um sich selbst besser zu fühlen. Verachtung als Methode der Selbstwertsteigerung.

Diese Methode ist nicht vom persönlichen wirtschaftlichen oder sonstigen Erfolg des Einzelnen abhängig. Es gibt schwerreiche Rassisten, antisemitische Filmstars und frauenfeindliche Spitzensportler. Allerdings, so ehrlich muss man sein, ist es wahrscheinlicher, dass jemand das Auf-andere-Herabblicken zur Steigerung des eigenen Wohlbefindens einsetzt, wenn es ihm nicht so gut geht. Auch ein arbeitsloser, einsamer Mann Ende vierzig hat immer noch die Option, die bösen Muslime zu verachten, wenn er auf der Suche nach einer schnellen Dosis abwärtsgerichteten sozialen Vergleichs ist.

Es gibt bei all dem aber eine gute Nachricht: Wir können auch anders. Anders als Tiere können Menschen sich dem simplen Belohnungsschema verweigern, motiviert durch ein höheres Gut. Alkoholiker werden trocken, weil sie ihre Familie behalten wollen, Spielsüchtige hören auf zu zocken, weil ihnen ihr Haus wichtig ist. Und ganze Staaten wenden sich von ihrer rassistischen Ideologie ab, weil man sie, dem Belohnungsprinzip zum Trotz, als falsch erkannt hat.

Tatsächlich gibt es viele Beispiele dafür, dass sich Gesellschaften von der schnellen Dosis Hass verabschiedet haben, weil sie gemeinsam das höhere Gut im Blick hatten, manchmal sogar ohne Krieg. Der Erfolg der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ist ein Beispiel, das Ende der Apartheid ein anderes, das Wahlrecht für Frauen, die zunehmende Gleichstellung Homosexueller und so weiter. Wir Menschen können das: Nein sagen zum schnellen Fix. Ethik kann über Belohnungssucht siegen. Und hat das gerade in den letzten Jahrzehnten wieder und wieder getan.

Die wichtigste Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist diese: Das derzeit so häufig eingeforderte Verständnis für diejenigen, die Rassismus, Sexismus, Homophobie und so weiter als Krücken fürs eigene Selbstwertgefühl benutzen, ist fehlgeleitet. Einem Alkoholiker hilft man ja auch nicht, indem man Verständnis für seine Sucht zeigt.

Man hilft ihm, indem man ihn dabei unterstützt, vom Alkohol loszukommen. Und zu diesem Zweck im Idealfall sein Leben so umzubauen, dass er andere Wege findet, sich wohlzufühlen.