Wer Thomas Fischer las, hatte meistens Lust auf Argumente. Lust auf Auseinandersetzung. Lust auf Streit. Ob nüchtern wissenschaftlich verpackt in seinem Kommentar zum Strafgesetzbuch (StGB) oder polemisch populärwissenschaftlich in seinen Kolumnen auf ZEIT ONLINE; sprachlich und intellektuell war es meist eine Wonne, seinen Gedankengängen zu folgen, Neues zu erfahren und seine Thesen furchtbar falsch oder exakt richtig zu finden.

Richtig finde ich beispielsweise sein Unbehagen darüber, dass öffentliche Debatten über Änderungen im Strafrecht in letzter Zeit mit besonders großer Wonne geführt wurden, wenn sie im weitesten Sinne mit Sexualität zu tun hatten. Beispiele? Die Beschneidung von Knaben, die Edathy-Bilder, das Prostitutionsgesetz. Oder die Diskussion um die Umsetzung der Istanbul-Konvention des Europarates und die daraus resultierende Frage, ob der Paragraf 177 StGB (sexuelle Nötigung, Vergewaltigung) reformiert werden müsse. Bei all jenen Themen geht die Öffentlichkeit stärker mit als bei anderen wichtigen Reformvorhaben. Und bei all jenen Themen ist der Druck von Verbänden besonders hoch. Das heißt aber nicht, dass die einzelnen Reformversuche nicht dennoch berechtigt oder gar richtig sein können.

So ist es bei der Frage nach dem Paragraf 177 StGB. Ja, er hat Schutzlücken. Und deshalb sollte er verbessert und reformiert werden. Thomas Fischer nennt diese Überlegungen abwertend "Die Schutzlückenkampagne". Was ihn wohl antreibt, eine öffentliche Debatte infolge einer internationalen Konvention als Kampagne zu diffamieren? Fürchtet er Horden von Feministinnen und Opferverbänden, die mithilfe einer Kampagne ihren Fußabdruck im Beton der Strafrechtsgeschichte hinterlassen wollen? Oder ist es pure Dogmatik, die ihn an dem Umstand verzweifeln lässt, dass das Strafrecht ab und zu den real existierenden Lebenssachverhalten angepasst werden muss? Und dass es sich dadurch von einem Ideal entfernt, sprachlich schlank und für jedermann einfach und direkt verständlich zu sein (wobei dies insbesondere für das Sexualstrafrecht bereits jetzt schon nicht zutrifft)? Man weiß es nicht. Aber offenbar hat Thomas Fischer einen Narren daran gefressen, dass in dieser Sache nur dann alles gut ist, wenn es so bleibt, wie es ist.

Was hätte die 15-Jährige besser machen sollen?

Wo die Schutzlücke des Paragrafen 177 StGB ist? Wohl dort, wo das (meist weibliche) Opfer sich in den Augen des Gerichts nicht genügend nach einem klassischem Muster wehrt: durch körperliches Abwehren, durch wiederholtes Nein sagen. Einen Beispielsfall – wenn auch bei weitem nicht den klarsten – nennt Thomas Fischer im ersten Teil seiner Kolumne selbst: ein Urteil des Landgerichts Essen vom 10. September 2012 (Aktenzeichen 25 KKLs 10/12). Das Gericht sprach einen 31-jährigen Mann frei, weil das 15-jährige weibliche Opfer zwar glaubhaft geschildert hatte, den Geschlechtsverkehr nicht gewollt zu haben. Sie hatte aber keine ausreichende Äußerung dazu gemacht, wie sie diesen entgegenstehenden Willen gegenüber dem Angeklagten kundgetan hatte. Das Gericht stellte in seinem Urteil fest, dass der Angeklagte weder Gewalt in irgendeiner Form ausgeübt, noch gedroht habe, noch habe die Geschädigte sich in einer "schutzlosen Lage" befunden. Zwar fürchtete sich die Geschädigte vor dem Angeklagten, doch äußerte sie, wie das Gericht feststellte, ihre Ablehnung nur einmal zu Beginn des Vorfalls, als der Angeklagte sie aufforderte sich auszuziehen. Sie zog sich dann aber (nicht widerlegbar) selbst aus und hob auch aus Angst vor dem Angeklagten die Beine selbst an, um sein Eindringen zu ermöglichen. Der Freispruch war juristisch korrekt, die Voraussetzungen des geltenden § 177 StGB sind bei diesem Sachverhalt nicht erfüllt.

Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Verhalten des Mannes aber strafwürdig ist. Und zwar nicht, weil ich, wie es Thomas Fischer im zweiten Teil seiner Kolumne den Grünen unterstellt, von feministischen Gruppen infiltriert bin (und selbst wenn!) , sondern weil es für mich glasklar ist, dass die körperliche Integrität und die sexuelle Selbstbestimmung einen hohen strafrechtlichen Schutz verdienen. Was hätte die 15-Jährige denn besser machen sollen? Ihren Unwillen nicht nur einmal, sondern 177-mal äußern? Die Beine zusammen kneifen? An keiner anderen Stelle verlangt das Strafrecht einen so hohen Aufwand des Opfers, sich gefälligst selbst zu schützen. Schon gar nicht wenn es nicht sicher sein kann, den Täter überwinden zu können oder schnell Hilfe zu erhalten. Wer ein geparktes Auto sieht, bei dem der Schlüssel im Schloss steckt, darf es sich trotzdem nicht einfach nehmen. Er begeht einen Diebstahl. Wer an einem schlafenden Obdachlosen vorübergeht, darf ihm keinen Tritt verpassen. Er begeht eine Körperverletzung. Warum soll es dann straflos sein, Geschlechtsverkehr mit einem Menschen zu haben, der das nicht will? Das passt nicht in unsere Rechtsordnung. Hier besteht eine Schutzlücke. Und das – wie gesagt – ist nur einer der weniger eindeutigen Fälle.

Noch eklatanter sind die Sachverhalte, in denen das Opfer unmissverständlich seinen Widerwillen äußert, den ganzen Vorfall über weint und sich steif macht, aber keine (körperliche) Gegenwehr leistet. Auch diese Fälle, bei denen es keinen Zweifel daran gibt, dass das Opfer seinen entgegenstehenden Willen dem Täter mitteilte, werden mit einer Verfahrenseinstellung bei der Staatsanwaltschaft oder spätestens mit einem Freispruch vor Gericht enden, solange sich das Opfer nicht in irgendeinem klassischen Sinne wehrt.

Weniger das geschriebene Recht selbst, als seine Anwendung durch die Gerichte atmet hier den uralten Geist, dass die Frau einen sexuellen Übergriff doch hätte verhindern können, wenn sie sich nur anders benommen hätte. Wenn sie sich kraftvoll gewehrt, lauthals geschrien oder möglicherweise einfach keinen so kurzen Rock angezogen hätte. Dass es diesen Ungeist zu bekämpfen gilt, ist keine grün-feministische Verschwörung gegen die klare Strafrechtsdogmatik. Dies wäre auch überraschend, da die Istanbul-Konvention des Europarates den gleichen Ungeist bekämpfen will. Und im Europarat auch Staaten wie Aserbaidschan oder Russland mitmischen, die nicht im Verdacht stehen, von feministischen Gruppen unterwandert zu sein. Nein; eine Verbesserung des Paragrafen 177 StGB würde den Schutz vor sexuellen Übergriffen verbessern. Und – ganz brutal gesagt – es würde klar stellen, dass für den eigenen Körper das strafrechtliche Schutzniveau genauso hoch ist wie für das geparkte Auto.

Opfer sexueller Übergriffe sind keine Pralinen

Thomas Fischer behilft sich im zweiten Teil seiner Kolumne mit einem schrägen Vergleich: "Wer eine ihm angebotene Praline isst oder irrtümlich glaubt, der Eigentümer sei mit dem Naschen einverstanden, begeht weder einen Diebstahl noch einen Raub. Und wer einen erwünschten Kuss erwidert, begeht keine sexuelle Nötigung."

Ach ja, die Praline. Wer kann da schon widerstehen? Geschenkt, dass die zumeist weiblichen Opfer sexueller Übergriffe Subjekte sind, aber keine süßen Objekte, die es zu vernaschen gilt. Geschenkt, dass die Täter keine Naschkatzen sind, die mit einem Augenzwinkern der Versuchung einfach nicht widerstehen können. All diese Bilder, die sich einem aufdrängen, wenn man diesen Vergleich liest, waren vielleicht nicht intendiert. Sei’s drum. Doch so wie geschildert, wird auch inhaltlich einfach kein Schuh draus. Für einen Autor und Richter wie Thomas Fischer ist dies erstaunlich.