Kolumne

Woran erkennt man eine alte Seele?

Manche Menschen scheinen aus der Vergangenheit zu kommen. Egal, wie jung sie sind, sie wirken in ihrem Aussehen, den Werten, dem Fühlen schon immer alt. Sie sind vor allem eines nicht: Touristen der Liebe.

Birgit Schmid
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Ist sie eine «alte Seele»? – Die schwedische Autorin Linda Boström Knausgård. (Bild: Christina Ottosson Öygarden / Modernista-Verlag)

Ist sie eine «alte Seele»? – Die schwedische Autorin Linda Boström Knausgård. (Bild: Christina Ottosson Öygarden / Modernista-Verlag)

Als ich dieses Gesicht sah, wusste ich sofort, man könnte sie so nennen: eine alte Seele. Ich meine das ganz unesoterisch, als Bezeichnung für jemanden, der aus der Vergangenheit zu kommen scheint. Egal, wie jung die Person ist, sie war schon immer alt. Altmodisch in den Werten, gründlich in den Gefühlen, und dann sehen sie oft noch so aus, als wären sie vor der Erfindung der Farbfotografie geboren. Auf manche Gesichter passt nur Schwarz-Weiss.

Das besagte Schwarz-Weiss-Porträt zeigte die schwedische Schriftstellerin Linda Boström Knausgård, es bebilderte einen Artikel ihres neuen Romans. Der Blick zurückgenommen und fragend, das Lächeln angedeutet, scheu. Hohe Stirn, streng zurückgezwirbelte schwarze Haare.

Sie alte Seele zu nennen, ohne sie zu kennen, ist sicher kühn, aber sie schaut für mich einfach aus wie eine. Wenn man dann noch über den Buchinhalt liest, glaubt man nicht so falsch zu liegen. In «Willkommen in Amerika» geht es um die wirkungsvollste Form des Redens, das Schweigen: um ein elfjähriges Mädchen, das verstummt. Die 1972 geborene Autorin war bis letztes Jahr mit Karl Ove Knausgård verheiratet, der über sein Leben sechs 1000-seitige Bücher geschrieben hat. Seine Frau, der es nicht immer gut ging, kam darin auch ausführlich vor.

Eine alte Seele hat keine Angst vor Gefühlen. Sie rechnet mit dem Schmerz, ist kein Tourist der Liebe.

Aber egal, ob sie es ist oder nicht, der womöglich missverständliche und spirituell verkitschte Begriff braucht Klärung. Was meine ich damit?

Es braucht gewiss mehr, als mit pomadisierten Haaren und strengem Scheitel wie Clarke Gable auszusehen oder die hohen Wangenknochen von Greta Garbo zu haben, obwohl dies das Wesen der alten Seele unterstreicht, wenn man denn eine ist. Eine alte Seele hört auch nicht zwingend klassische Musik, fährt keinen Oldtimer und treibt sich nicht am liebsten auf Friedhöfen herum. Sie ist aber vergangenheitstüchtiger als andere, das schon. Sie blickt lieber zurück als nach vorn, was auch ihren Hang zu Wehmut erklärt.

Es ist ja ein bekanntes Phänomen, man hört es von den Alten: Je älter man wird, umso mehr hat man das Gefühl, aus der Zeit zu fallen. Man kann nicht nur nicht mehr Schritt halten mit dem Neuen, sondern es fehlt auch zunehmend das Interesse für das Unbekannte. Die alterslos Altmodischen machen die Erfahrung, dass es nicht jede Mode mitzumachen gilt, schon in jungen Jahren. Das muss aber nicht in allen Bereichen so sein. Eine alte Seele kann sich auch für Technik interessieren oder für Stil. Dafür ist sie altmodisch in der Gesinnung und wertet zum Beispiel Anstand oder Treue hoch. Sie ist uncool, aber nicht rückständig. Sie ist ernst, aber nicht ohne Humor.

Vor allem glaube ich: Eine alte Seele hat keine Angst vor Gefühlen. Sie rechnet mit dem Schmerz, ist kein Tourist der Liebe. Den schönsten Roman über eine alte Seele hat Monika Maron geschrieben. In «Animal Triste» erinnert sich die Heldin, die ihr Alter nicht mehr kennt, an «damals vor fünfzig oder vierzig oder sechzig Jahren, es war Herbst» – als sie ihrer grossen Liebe begegnete. Sie trifft den Mann zum ersten Mal bei ihrem Lieblingstier im Naturkundemuseum. «Eines Morgens stand er neben mir, der Brachiosaurus grinste auf uns beide herab wie sonst auf mich allein, und Franz sagte leise und unvergesslich: Ein schönes Tier.» Und da fragt sie sich, ob die Stimme von Franz «einem gehörte, der mein Geheimnis kannte, der wie ich über hundertfünfzig Millionen Jahre hinweg das eine Tonne schwere Herz des Brachiosaurus schlagen hörte».

Und es in seiner Schwere spürte. Wenn es so war: Sie hätten sich erkannt.

NZZ-Redaktorin Birgit Schmid schreibt in ihrer Kolumne «In jeder Beziehung» wöchentlich über Zwischenmenschliches.