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Junge Flüchtlinge Auf der Suche nach Halt

Die Attacke von Würzburg wirft ein Schlaglicht auf die Situation jugendlicher Flüchtlinge in Deutschland. Betreuer und Experten klagen über Fehler im System. Besuch in einer Wohngruppe in Berlin.
Minderjährige Flüchtlinge mit ihren Betreuern in Berlin

Minderjährige Flüchtlinge mit ihren Betreuern in Berlin

Foto: SPIEGEL ONLINE

Amir* aus Afghanistan, ein 16-jähriger Junge mit rundem Gesicht und mandelförmigen Augen, hat Post bekommen. Von der Polizei. Er habe gegen das Aufenthaltsgesetz verstoßen, steht in dem Brief. Weil er beim Grenzübertritt keine gültigen Papiere hatte.

"Du musst dir keine Sorgen machen", beruhigt Marlene O., Amirs Betreuerin. Einen solchen Brief haben in den vergangenen Monaten viele Flüchtlinge bekommen. In den allermeisten Fällen werden die Verfahren eingestellt und landen im Papierkorb .

Amir jagt der Brief trotzdem einen Schrecken ein. Die Angst, nicht in Sicherheit zu sein, sitzt tief bei ihm. Es hat Monate gedauert, bis er nach seiner Ankunft in Deutschland Geborgenheit gefunden hat.

Ein Einfamilienhaus in Berlin-Alt-Hohenschönhausen, im alten Ostteil der Stadt, Blumen im Vorgarten, ein Trampolin auf dem Rasen, Beete mit Zucchini und Tomaten, eine Deutschlandfahne am Fenster. Ein Idyll in einer ruhigen Seitenstraße, eingerahmt von hohen Plattenbauten. Hier leben Amir und zehn andere jugendliche Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan gemeinsam in einer Wohngruppe.

Wie die elf Jungen sind Zehntausende in den vergangenen Monaten ohne ihre Eltern nach Deutschland geflohen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge - so nennt sie die deutsche Asylbürokratie, kurz UMF. Dieses Label verbindet die Jugendlichen aus Berlin mit dem 17-jährigen, der am Montag nahe Würzburg fünf Menschen mit einer Axt verletzte. Auch er ist allein gekommen, hat wahrscheinlich Schlimmes durchgemacht, erst in seiner Heimat, dann auf der Flucht.

Die furchtbare Tat hat ein Schlaglicht auf die Situation der UMF in Deutschland geworfen. Wer kümmert sich um sie? Gibt es Probleme bei ihrer Aufnahme, ihrer Betreuung, Probleme, die begünstigen, dass nicht auffällt, wenn jemand abgleitet? So wie Riaz Khan Ahmadzai, der 17-jährige Attentäter von Würzburg.

Über den Angriff von Würzburg nicht "nebenbei" sprechen

Einfache Antworten gibt es nicht. Riaz Khan Ahmadzai lebte gut behütet in einer Pflegefamilie, hatte Aussicht auf einen Ausbildungsplatz. Gut angekommen, gut aufgefangen, so scheint es, war der Junge aus Afghanistan. Trotzdem hat er Gefallen an der mörderischen Ideologie des "Islamischen Staats" gefunden.

Für viele andere UMF sind die äußeren Bedingungen schlechter als für den Attentäter. Sie sind nicht in einer Pflegefamilie. Oder sie haben einen Vormund vom Jugendamt, der noch Dutzende oder sogar Hunderte andere UMF als Mündel hat. Die einzigen verlässlichen, erwachsenen Kontakte sind dann die Betreuer in den Wohngruppen.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Berlin

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Berlin

Foto: SPIEGEL ONLINE

Die Psychologin Marlene O. ist Teamleiterin in der Einrichtung in Alt-Hohenschönhausen. Würde sie mitbekommen, wenn einer ihrer Schützlinge abgleiten würde?

Marlene O. sagt: "Unser Vertrauensverhältnis ist gut, aber die Bedingungen nicht gut genug." Ein Beispiel: Sie und ihre Kollegen wüssten, in welche Moscheen die Jungs gehen. "Aber es wäre gut, wenn wir auch manchmal mit in die Moschee gehen könnten." Dafür aber fehle es an Personal. Über die Axt-Attacke habe sie mit den Jugendlichen noch nicht geredet, sagt Marlene O. "Das kann man nicht nebenbei thematisieren, die Jugendlichen dürfen sich nicht unter Generalverdacht fühlen."

Robert Klix ist Geschäftsführer des Jugendhilfeträgers "Mittendrin" , der die Einrichtung in Berlin betreibt. Er erhebt schwere Vorwürfe gegen die Behörden. Eine angemessene Betreuung der jungen Flüchtlinge werde systematisch hintertrieben - etwa dadurch, dass neue, kleine Wohngruppen, in denen sich genügend Fachleute um die Jugendlichen kümmern, verhindert würden. Seit Monaten kämpfen Klix und seine Leute darum, eine neue Einrichtung eröffnen zu dürfen.

"Riesendrama im System"

Auch Tobias Klaus vom Bundesverband Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge beschreibt dieses Problem. "Jetzt, wo weniger Flüchtlinge ankommen, werden statt der Großunterkünfte, die kleineren mit besserem Betreuungsschlüssel geschlossen. Das ist fatal." Es lasse sich nie zu hundert Prozent ausschließen, dass übersehen werde, wenn sich Flüchtlinge radikalisieren. Aber in Großunterkünften sei es kaum noch möglich, problematische Entwicklungen mitzubekommen, sagt Klaus.

Betreiber Klix spricht von einem "Riesendrama im System". "Das, was Menschen aus der Bahn wirft, sind abgebrochene Bindungen. Diese Jugendlichen kommen hier allein an. Und bis sie eine angemessene Herberge haben, vergehen viele Wochen oder Monate." Oft kämen die Jugendlichen bis dahin immer wieder in neue Unterkünfte.

Die Folge: Neu geknüpfte Bindungen brechen wieder ab. "Das ist immer wieder Psychoterror", meint Klix. Auch das Warten auf einen Platz in der Schule oder auf eine Anhörung im Asylverfahren könne danach wieder Monate dauern. Eine Zeit, in der die Jugendlichen sich haltlos fühlen.

Macht das ihre Schützlinge anfällig für extremistisches Gedankengut? "Ich will nicht pauschalisieren", sagt Psychologin Marlene O. Wenn man überhaupt eine Tendenz erkennen könne, dann aber eher diese: "Viele sind vor islamistischen Extremisten geflohen. Mein Gefühl ist deshalb: Wenn ihnen jemand sagt, sie sollten für den IS kämpfen, würden sie sagen: 'Sicher nicht, der hat ja meinen Bruder umgebracht.'"

Junge Flüchtlinge in ihrem Zimmer in Berlin

Junge Flüchtlinge in ihrem Zimmer in Berlin

Foto: SPIEGEL ONLINE

Religion sei vielen Jugendlichen in der Einrichtung wichtig, sagt die Betreuerin - ein Problem gebe es damit nicht. Die jungen Flüchtlinge würden sie als Frau in ihrer Position uneingeschränkt respektieren, dies gelte auch für Menschen anderen Glaubens oder solche, die mit Religion nichts anfangen können. Einer der Jungs habe mal gefragt: "Wieso ist denn eine Frau hier die Chefin?" - er meinte Marlene O. Da habe ihr Kollege geantwortet: "Das ist so in Deutschland. Angela Merkel ist ja auch eine Frau."

Nüchterne Antwort aus dem Kanzleramt

An die Kanzlerin haben die Jungen aus Alt-Hohenschönhausen vor vielen Wochen einen Brief geschickt. Darin haben sie Merkel eingeladen, ihre Einrichtung zu besuchen. Und sie haben den Wunsch geäußert, ihre Eltern möglichst bald wiederzusehen.

Lange kam keine Reaktion, dann ein Brief im Auftrag Merkels vom Koordinierungsstab Flüchtlingspolitik aus dem Kanzleramt: "Es ist gut zu lesen, dass Euch die Unterbringung (...) gut gefällt und ihr euch wohlfühlt", schreibt eine Mitarbeiterin. Und die Eltern? Das Kanzleramt könne darauf im Einzelfall keinen Einfluss nehmen - "mangels Zuständigkeit und aus Gründen der Gleichbehandlung".

Es folgt ein Zitat aus dem "Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren" - und der Hinweis, dass für subsidiär Schutzberechtigte der Familienauszug ausgesetzt wurde. Die Jugendlichen und ihre Betreuer sollten sich doch mit einem Anwalt besprechen, so der Rat aus dem Kanzleramt.

Die Ungewissheit bleibt, die Angst um die Familie in der Heimat.

Immerhin, am Mittwoch haben die Schützlinge von Marlene O. gelernt, dass offizielle Schreiben in Deutschland auch positive Nachrichten übermitteln können. Einige haben ihr erstes Zeugnis bekommen. Und manche von ihnen sogar Urkunden für besonders gute Leistungen.

*Name geändert