Georg Büchner wirkt bis heute. Mit seiner Literatur. Vor allem mit seinem Urteil über Gießen. Der Stadt, in der er zwei Jahre studierte, rief er "eine hohle Mittelmäßigkeit in allem" nach. Eine Postkarte mit diesem Zitat hängt in jeder zweiten Gießener Studenten-WG.

Mittelmaß, wenn's das bloß wäre. Ästhetisch gesehen ist Gießen nicht mittelmäßig. Gießen ist hässlich. Kein echter Gießener würde das bestreiten. Der echte Gießener kokettiert mit der Hässlichkeit und ihrer Geschichte. Zerbombt im Zweiten Weltkrieg, verwundet von unzivilisierten Städteplanern im Nachkriegsdeutschland.

Frag einen Gießener nach dem beliebtesten Bauwerk und er verweist auf eine Fußgängerüberführung aus Beton. Sie heißt Elefantenklo, weil sie drei große Löcher hat. Auf denen könnten Elefanten ihre Geschäfte machen. Natürlich ist es kein Zufall, dass das Wahrzeichen Gießens mit Exkrementen zu tun hat. Bis ins 19. Jahrhundert hingen die Aborte, Schwalbennester genannt, in der Altstadt an den Außenwänden. Von dort lief, triefte, fiel alles herab in den Schlamm, auf dem die Stadt gebaut ist. Gegenwärtig ist das, zugegeben, anders gelöst. Doch "Schlammbeiser" nennen sich die Gießener bis heute.

Immerhin hat das Elefantenklo etwas Gutes. Es versperrt den Blick auf den Seltersweg. Gießens bekannteste Straße wäre fast zur 1-Euro-Laden-Meile verkommen. Den nächsten finsteren Hotspot erreicht man, indem man über die verwahrloste Gegend um die Bahnhofstraße geht. Dort bedroht einen die viel zu große Mall am Oswaldsgarten. Dass es in Gießens City nur ums Shoppen geht, zeigt sich auch nach Ladenschluss. Dann weht Staub durch die einsame Fußgängerzone.

Frag einen Gießener nach dem beliebtesten Bauwerk, und er verweist auf eine Fußgängerüberführung mit drei Löchern: das Elefantenklo © CC BY-SA 3.0 Wikimedia Commons/​KlausFoehl

Andere Beispiele der stadtplanerischen Verrohung: Die Kongresshalle präsentiert der Straße ihren Lieferanteneingang, streckt den Fußgängern also ihren Arsch entgegen. Die Post ist in einem mehrstöckigen fäkalienfarbigen Klotz untergebracht.

Einen beliebten Platz, ein urbanes Zentrum, gibt es in Gießen trotz der vielen Studenten nicht. In deren Parlament gibt es eine Partei namens ZVS-Opfer. Das waren die, die von der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze nach Gießen geschickt wurden. Und entsetzt waren, als sie feststellten, dass sie kein mittelhessisches Fachwerkkleinod erwartet.

Gießener Schlammbeiser © Public domain über Wikimedia Commons/​Tim Beil

Kein Witz

Nein, mit Mittelmaß gibt sich der Gießener nicht zufrieden, Herr Büchner. Lieber ist ihm der letzte Tabellenplatz. Jüngstes Beispiel der Schändlichkeit: An der Bushalte am Marktplatz hat die Stadt Wartehäuschen aufgestellt, die nachts giftgrün und grelllila leuchten, als würden sie eine Achterbahn auf einem Volksfest bewerben. Auch mit Absicht könnte man etwas nicht schlimmer verunstalten. Architekturprofessoren reisen in Bussen nach Gießen, damit ihre Studenten lernen, wie man es nicht macht. Kein Witz.

Noch ein Büchner-Zitat: "Diese Stadt ist abscheulich." Schon treffender.

Doch, ach richtig, diese Serie handelt ja von unterschätzten Städten, nicht von solchen, die richtigerweise hässlich genannt werden. Was zum Beispiel unterschätzt wird, ist die Gießener Selbstironie: hässlich sein und das zum Markenzeichen machen. Toll. Und es gibt auch wirklich ein anderes Gießen. Ein geistiges. Die Technische Hochschule zieht Ingenieurstalente an. Die Justus-Liebig-Universität hat ihre Naturwissenschaften zu einem Think Tank ausgebaut. Das Zentrum für Medien und Interaktivität erforscht das Internet. Und am Zentrum für Philosophie öffnet der Soziobiologe Voland einem die Augen. Er lehrt, was Affen von Menschen unterscheidet. Nicht viel, diese Erkenntnis fällt einem in Gießen vermutlich besonders leicht, es ist schließlich die Stadt der Selbstironie.

Das Fach Theaterwissenschaft ist über Deutschlands Grenzen renommiert. Die Ausdruckstänzer, wie Studenten dieses Fachs genannt werden, nerven zwar mit Angeberwissen über das osteuropäische Autorenkino. Aber zu ihrem Diskursfestival reist jährlich eine Avantgarde aus Kunst und Theater an. Das Mathematikum am Bahnhof nimmt Schulklassen und Touristen die Angst vorm Rechnen und vor Zahlen. Das Liebigmuseum ist nicht nur für Chemiker ein Muss. Und der hübsche Botanische Garten, der älteste Deutschlands, ist frei zugänglich.

Muss man nicht einmal gießen: den schönen Botanischen Garten © Public domain über Wikimedia Commons/​Hausmaus

Selbst äußerlich tut sich was in Gießen: Die Landesgartenschau kann man zwar ignorieren, aber sie hat in der Stadt viele Blumenbeete und Grünes hinterlassen. Pflanzen waren den Gießener Bauherren bisher fremde Gewächse. Inzwischen entdecken die Gießener auch ihren Fluss. Studenten sitzen an der Lahn, auf der Wiese oder in Cafés. Und in der fünf Jahre neuen Kunsthalle im Stadthaus sieht man regelmäßig schöne Ausstellungen.

Vor allem bietet Gießen eine brauchbare Auswahl an Kaschemmen. Da ist das Domizil hinterm Schloss. Selbst wenn man davor steht, erkennt man nicht, dass es eine Kneipe ist. Dafür gibt es Dosenbier bis morgens um sechs, wenn man es schafft, unfallfrei die Treppen herabzustürzen. Lebt der brave Hund noch, der immer im Eingang lag?

Der Musikkeller Scarabee, schwer zugänglich hinter den Bahngleisen, ist ein dunkles Loch. In den Siebzigern sah man es einmal in den Abendnachrichten, weil die Polizei mit einem Trick das ausgeklügelte Alarmsystem aus Warnposten umging. Sie reiste zur Razzia mit dem Güterzug an und hob das Drogennest aus.

Fast Hamburg

Man muss auch mal vorm Ulenspiegel in der Schlange gestanden haben. Die Tanzbar im Stadtzentrum ist entweder ganz leer oder zu voll. Drin gibt's Housebeats und Indie. Eva Briegel, die Sängerin der Band Juli, schenkt dort allerdings nicht mehr Bier ein. Im Domizil, Scarabee oder Ulenspiegel ist Gießen fast Hamburg. Übrigens kein Zufall, dass man in alle drei herabsteigen muss. Gießen ist unterirdisch am schönsten.

Und Essen ist natürlich ganz wichtig in Gießen. Wer das nötige Großgeld hat und die Nähe zu den Porschefahrern aus dem reichen Taunus nicht scheut, geht zum besternten Tandreas in der Licher Straße. Ruppiger geht’s am Bahndamm zu. Bei Omi Gerbig gibt’s schnippische Blicke und Fleischberge. Die Speisekarte ist lang: eine Seite Schnitzel, eine Seite Hackbraten. Bloß mit Fettgestank aus der Küche darf man nicht so empfindlich sein.

Der Hawwerkasten am Schloss kocht oberhessisch, in der Wissicher Pann kuscheln sich Blutwurst und Dörrfleisch an saure Gürkchen. Die Woscht-Anna am Landratsamt hat wieder aufgemacht. Die Original-Anna ist zwar zehn Jahre tot, aber die Tradition der Nachtwurst an der Imbissbude lebt weiter.

Weil von oben nicht mal Gießen hässlich ist, empfiehlt sich das Dachcafé am Berliner Platz. Ich bin schon früher hingegangen, damals war's eins von den vielen Gießener Omi-Cafés mit Schwarzwälder Kirsch und beschürzten Frolleins. Heute ist es hipstertauglich verlounget. Herrlich der Blick auf den Großen Feldberg im Süden und im Norden auf den Dünsberg, wo früher die Kelten hausten und heute die Dorfjugend Rennen fährt.

Friede!

Überhaupt das Umland. Auf dem Schiffenberg, einem alten Kloster am Stadtwald mit Biergarten, wird Apfelwein ausgeschenkt. Man sollte eh viel mehr Apfelwein trinken, das ist ein ganz anderer Suff als Bier: fröhlich, langsam, hessisch halt. Nebenan im Biebertal recken sich die Burgen Vetzberg und Gleiberg, der Geburtsort von Kunigunde (980 n. Chr.). Hügel, viel Wald, Hessen halt, ein Paradies für Motorradfahrer und Spaziergänger.

Und nahe Lollar, am Nordrand Gießens, findet man die Badenburg, eine Ritterruine. Dort isst man Knochen aus der Hand. Dort schrieb Büchner seine Revolutionsschrift Der Hessische Landbote. Ein Stück Literatur, ein Stück Demokratie für die Ewigkeit. "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" Auch das ist ein Satz aus Gießen.

Kennen Sie auch eine unterschätzte Stadt? Warum ist sie unterschätzt? Schreiben Sie Ihre Hinweise einfach in die Kommentare!

1 Zum Bahndamm a.k.a. Schnitzel Oma a.k.a. Omi Gerbig (Riegelpfad 46): Restaurant mit großer Speisekarte – eine Seite Schnitzel, eine Seite Hackbraten

2 Mathematikum (Liebigstraße 8): Hier wird gerechnet. Gilt für alle, nicht für Fachleute. Vielen macht Mathematik danach auch Spaß.

3 Elefantenklo: Fußgängerübergang mit drei nicht unschönen Löchern

4 Ulenspiegel (Seltersweg 55): Tanzbar mit schöner Anschrift

5 Botanischer Garten (Senckenbergstraße 8): vom Fachbereich Biologie der Universität betreuter Park

6 Woscht-Anna (Ostanlage/Ecke Moltkestraße): heute eigentlich "Beckers Bratwurst". Veganer Imbiss. Nein, nur Spaß, es gibt Wurst.

7 Neues Schloss und Zeughaus (Senckenbergstraße 3): gehört zur Universität. Früher gab es hier einen Karzer für sauffreudige Studenten.

8 Hawwerkasten (Landgraf-Philipp-Platz 9): oberhessische Küche

9 Badenburg (Inselweg 22): Dort schrieb Georg Büchner seinen Hessischen Landboten. Heute kann man was essen.