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Jakob Augstein

S.P.O.N. - Im Zweifel links Blinde Rache

Bomben statt Vernunft: Der Westen ist dem "Islamischen Staat" in die Falle gegangen. Der Terror ist ein Problem Europas. Hier muss er bekämpft werden, nicht in Syrien. Aber nicht mit Gewalt, sondern mit Geduld, Verstand und Herz.

Was ist das Ziel des Terrors? Angst, Gewalt und Uneinigkeit. Wie reagiert der Westen auf den Terror? Mit Angst, Gewalt und Uneinigkeit. Europa hat sich vom "Islamischen Staat" das Gesetz der Rache aufzwingen lassen. Damit haben wir die Terroristen zu Siegern gemacht. Aber die wahre Herausforderung des Terrorismus liegt nicht in Syrien oder im Irak. Sie liegt in den europäischen Vorstädten. Hier müssen wir kämpfen. Nicht gegen die Terroristen - sondern um sie. Das geht nicht mit Waffen sondern mit Geduld, Verstand und Herz. Hat Europa dazu die Kraft?

Der Franzose Nicolas Hénin war als Journalist in Syrien. Er geriet in die Gefangenschaft des IS. Nach zehn Monaten wurde er befreit. Henin sagte nach den Anschlägen von Paris und nach den Bomben auf Rakka: "Wir sind dem IS in die Falle gegangen. ... Ich kenne sie. Bombardements erwarten sie. Was sie fürchten, ist Einheit." Aber offenbar wird die Politik nicht von den Leuten gemacht, die den IS kennen. Sie wird nicht einmal von Leuten gemacht, denen es wirklich ernst ist mit dem Kampf gegen den Terror. Anders ist kaum zu erklären, warum der Westen im Kampf gegen den Terror immer wieder auf die falsche Strategie setzt.

Ja, der Kampf gegen den IS muss geführt werden. Peter Neumann, Terrorexperte in London sagt: "Der IS ist eine Beuteökonomie. Genau wie Nazi-Deutschland muss er immer neue Gebiete an sich reißen, um den Staat zu füttern. Wenn man die Expansion militärisch stoppen kann, wird er kollabieren. Mein Vorschlag lautet aggressive Eindämmung." Das aber ist etwas anderes, als Bomben auf Rakka zu werfen, die Hochburg des IS. Dort leben bis zu 400.000 Menschen. Sie sind Geiseln. Jede Bombe auf Rakka erzeugt neue Terroristen und bestärkt die alten. Mag sein, dass hier "eine neue Art von Krieg" vorliegt, wie Bundespräsident Joachim Gauck es formuliert hat. Aber eine alte Regel des Krieges hat auch hier Gültigkeit: Finde heraus, was dein Feind will, und tue das Gegenteil. Der Westen ignoriert diese Regel schon wieder.

Integration ist die beste Prävention gegen Terror

Das wahre Problem des Westens liegt aber nicht in Syrien oder im Irak. Es war ein bitterer aber wahrer Scherz, als "Handelsblatt"-Herausgeber Gabor Steingart schrieb: "Wenn es mit rechten Dingen zuginge, müsste die französische Luftwaffe europäische Vorstädte bombardieren - und nicht Teile von Syrien." Denn die Terroristen sind ja unsere Kinder. Sechs der identifizierten Attentäter von Paris waren Bürger der Europäischen Union, Franzosen oder Belgier. Was haben wir ihnen angetan, dass ihr Hass so groß wurde? Es hätte viel Mut dazu gehört, diese Frage im Angesicht der Toten und ihrer Angehörigen zu stellen. Präsident Hollande hatte diesen Mut nicht. Aber immerhin hat sein Wirtschaftsminister Emmanuel Macron jetzt Staat und Gesellschaft "eine Mitverantwortung" für die islamistische Gewalt zugesprochen. Die Republik habe ihr Versprechen der Gleichheit "ruiniert".

"La haine" hieß der Film, den Mathieu Kassovitz im Jahr 1995 über die französischen Vorstädte drehte, "Hass". Das ist 20 Jahre her. Viele Hundert Millionen Euro hat der französische Staat seitdem für Erziehung und Stadtentwicklung in die "zones d'éducation prioritaires" und die "zones urbaines sensibles" gesteckt. Aber "J'ai la haine" - "Ich habe einen Hass" - heißt es heute immer noch in Clichy-sous-Bois oder Montfermeil, in den Vorstädten im Osten von Paris. Von einem System der "territorialen, sozialen und ethnischen Apartheid" sprach der französische Premierminister Valls nach den Attentaten im Januar, nach "Charlie Hebdo" und den Toten aus dem jüdischen Supermarkt.

Der bedeutende Sozialforscher Gilles Kepel hat die französischen Vorstädte untersucht. Sein Fazit: Die Integration arabischer und afrikanischer Einwanderer in die republikanische Gesellschaft ist gescheitert. In Frankreich wohnen Menschen, die einen französischen Pass haben, die Franzosen sind, die aber nicht zur Republik gehören. Sie wenden sich dem Islam zu. Aber das ist die Folge, nicht die Ursache ihrer mangelnden Eingliederung.

Frankreich steht vor einer ungeheuren Aufgabe. Die Versäumnisse der fehlgeschlagenen Integration zu beheben, wird viel schwieriger, kostspieliger und langwieriger sein, als Bomber nach Rakka zu schicken oder einen Flugzeugträger ins östliche Mittelmeer zu beordern. Aber es gibt dazu keine Alternative. Denn das französische Versagen im Umgang mit den muslimischen Einwanderern ist zu einem europäischen Sicherheitsproblem geworden.

Und die Deutschen sollten genau hinsehen. Deutschland ist jetzt ein Einwanderungsland. In den kommenden Jahren werden noch Hunderttausende von Menschen kommen. Ihre Integration ist die beste Prävention.