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Menschenhandel auf dem Sinai Wie eine Frau mehr als 500 Flüchtlinge aus Folterlagern rettete

Alganesh Fessaha ist mutig. Sehr mutig. Die Menschenrechtlerin befreite auf dem Sinai Hunderte Flüchtlinge aus der Gewalt sadistischer Kidnapper. Wie hat sie das gemacht?
Alganesc Fessaha: "Meine Seele schickte mich"

Alganesc Fessaha: "Meine Seele schickte mich"

Foto: Roland Berger Stiftung

Merhawi lächelt in die Kamera. Es ist ein breites, sonniges, und zugleich unendlich müdes Lächeln. Der kahl geschorene Kopf und der ausgemergelte Körper des 13-Jährigen stehen in heftigem Kontrast zu seinem offenen, zarten Gesicht.

"Merhawi hat sich nie ergeben", sagt Alganesh Fessaha, und in ihrer Stimme schwingt Mutterstolz mit. Nach seiner Entführung durch Menschenhändler habe der Junge monatelang fast nur von Wasser gelebt. "Als sie ihn gefoltert haben, hat er keinen Mucks von sich gegeben. Diese Genugtuung wollte er ihnen nicht verschaffen."

Flüchtlingskind Merhawi aus Eritrea

Flüchtlingskind Merhawi aus Eritrea

Foto: Alganesh Fessaha

Auf offener Straße war der eritreische Flüchtling im Sudan von professionellen Menschenhändlern entführt worden. Vor eineinhalb Jahren entdeckte ihn Fessaha im Sinai, nur zwei Kilometer vor der Grenze zu Israel in einem Versteck von Beduinen. Als die Wächter nachts betäubt von Alkohol und Haschisch eingeschlafen waren, schlich sie sich mit Helfern in die Geiselunterkunft und nahm den Jungen und weitere Flüchtlinge mit.

Fessaha hat Merhawi das Leben gerettet. Und nicht nur ihm. In den vergangenen fünf Jahren hat die aus Eritrea stammende Menschenrechtlerin 550 Flüchtlinge aus den Händen von Schleppern und Entführern befreit, weitere 2300 aus den Gefängnissen auf der Halbinsel Sinai. Dafür und für ihre Hilfsprojekte in Äthiopien und dem Sudan  wird sie an diesem Mittwoch in Berlin mit dem Preis für Menschenwürde der Roland-Berger-Stiftung  geehrt.

Zu Tausenden fliehen Eritreer vor der Diktatur in ihrem Land, einem Regime, in dem es weder Presse- noch Meinungsfreiheit gibt. "Es ist eine Gesellschaft voller Denunzianten", sagt Fessaha. "Niemand kann auf der Straße offen reden, häufig auch nicht zu Hause, weil Kinder gezwungen werden, ihre eigenen Eltern auszuspionieren." Politiker seien inhaftiert worden, Minister, Journalisten, Regimegegner und einfache Leute, niemand wisse, ob sie überhaupt noch lebten. "Ganz Eritrea ist ein riesiges Gefängnis."

Jungen ab 16 Jahren werden zwangsrekrutiert - und dann manchmal lebenslang im Militärdienst als billige Arbeitskraft ausgebeutet und misshandelt. Deshalb machen sich viele junge Männer auf den Weg über den Sudan nach Ägypten. Doch hier droht weit Schlimmeres: Ab etwa 2010 ersannen ägyptische Menschenhändler, darunter viele Beduinen, eine perfide Strategie: Anstatt Flüchtlinge für mäßig viel Geld nach Israel zu schmuggeln, entführten sie diese und erpressten immense Lösegeldsummen von den verzweifelten Verwandten daheim. Dazu riefen sie die Familien an und ließen sie dabei zuhören, wie ihre Angehörigen gefoltert wurden. Die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" hat 2014 in einem schockierenden Bericht  Menschenhandel und Folter von Eritreern in Ägypten und dem Sudan angeprangert.

Die örtlichen Behörden sollen teilweise mit den Entführern zusammenarbeiten. Zwischen 2009 und 2013 sollen Zehntausende dem bestialischen Treiben der Erpresser in der ägyptischen Wüste zum Opfer gefallen sein. Die Gewinnspannen sind mit 5000 bis 50.000 Dollar pro Entführungsopfer riesig.

In ihrem 2014 erschienenen Buch "Augen in der Wüste"  zeigt Fessaha Fotos der Folteropfer, die sie selbst betreut hat. Es sind Bilder von Menschen, deren Körper mit glühenden Eisen verbrannt wurden. Deren Haut mit kochendem Wasser oder Öl übergossen wurde. Deren Leiber aufgeschlitzt und akribisch wieder zugenäht wurden, sehr wahrscheinlich wurden Organe entnommen. Es sind Bilder von Leichen, die Fessaha in der Wüste aufliest, um den Menschen wenigstens eine würdige letzte Ruhestätte zu verschaffen.

"Eine entsetzliche Wut"

Wer kauft die Organe? "Das wissen wir nicht genau", sagt Fessaha. "Aber wir wissen, dass Ägypten ein wichtiger Organlieferant ist. Und wir wissen, dass Israel nah ist und die Kühlkette dorthin problemlos eingehalten werden kann."

Woher kommt die unfassbare Brutalität der Kidnapper? "Das sind frustrierte Menschen, die alles für Geld tun", sagt Fessaha. "Irgendwie tragen sie eine entsetzliche Wut in sich." Als ägyptische Truppen den Nordsinai im Kampf gegen Dschihadisten bombardierten, schadete das auch den Menschenhändlern, die ihr lukratives Geschäft ruhen lassen mussten. "Ich kann mir aber vorstellen, dass sie bereits die neue Flüchtlingsroute über das ägyptische Alexandria im Blick haben", sagt Fessaha. Nach dem Sturz von Präsident Mohammed Mursi im Juli 2013 soll sich die Zahl der Kidnappings verringert haben. Das behaupten zumindest die ägyptischen Behörden.

Die mutige Helferin betont, dass sie keinen Cent an die Entführer gezahlt habe, um ihre Schützlinge zu befreien. Unbezahlbar sei die Hilfe von Mohammed Abu Bilal gewesen, einem jungen salafistischen Beduinenscheich aus dem Sinai, der sich nach einigem Zögern dazu entschlossen hatte, sie zu unterstützen.

"Wer hat dich geschickt?", habe er am Anfang skeptisch gefragt. "Meine Seele", antwortete Fessaha.

Seine Ortskenntnis und seine Autorität hätten später dazu geführt, dass die Kidnapper und Folterknechte viele Opfer nach zähen Verhandlungen herausgegeben hätten. "Der Scheich war eine Riesenhilfe, ohne ihn wäre das alles nicht möglich gewesen." Der Muslim und die Christin haben auch schon ein neues Projekt: Im Dorf des Scheichs soll eine Schule entstehen.

Der Preis, den Alganesh Fessaha nun erhält, ist mit 50.000 Euro dotiert. Solche Auszeichnungen sind bisweilen eine gute Sache. Ein Glücksgefühl beim Helfen auch. Nur wenige Stunden nach seiner Rettung sagte der klapperdürre Merhawi zu seiner neuen "Mama": "Sobald ich wieder Fleisch auf den Knochen habe, werde ich dir bei deiner Arbeit helfen."