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Jeder Mensch zählt. Integrationssenatorin Dilek Kolat begrüßt in Berlin bei der Stadtmission am Hauptbahnhof die Flüchtlingsfamilie Omer aus Somalia.

© Wolfgang Kumm/dpa

Prognosen für Berlin: Bis zu 70.000 Flüchtlinge in diesem Jahr

Koalitionskreise erwarten deutlich mehr Flüchtlinge in Berlin als bislang berechnet. Nun sind auch Zeltdörfer eine Option. Und das Lageso wird auch am Wochenende arbeiten. Die Stadtmission fordert einen Berliner Flüchtlingsgipfel.

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In Koalitionskreisen wird damit gerechnet, dass Berlin dieses Jahr bis zu 70 000 Flüchtlinge aufnehmen muss. Sollte sich das bestätigen, stünde die Hauptstadt im Herbst und Winter vor äußerst schwierigen Problemen bei der Unterbringung – und die Kosten für Unterbringung, Versorgung, Kitabetreuung und Schule könnten auf 700 Millionen Euro für 2015 steigen. Noch geht die Senatssozialverwaltung offiziell von rund 40 000 Menschen aus, die in Berlin Zuflucht suchen. Aber bundesweit werden jetzt schon eine Million Asylbewerber in Deutschland erwartet, entsprechend erhöhen sich auch die Zahlen in den einzelnen Ländern.

Und im letzten Quartal jedes Jahres kommen erfahrungsgemäß besonders viele Asylsuchende. Den Ernst der Lage dokumentiert ein Aufruf der fünf im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien. „Vor den Herausforderungen, die mit der Aufnahme der Flüchtlinge verbunden sind, stehen wir gemeinsam, dies ist eine staatliche und auch zivilgesellschaftliche Aufgabe“, erklärten die Landeschefs der Parteien. Sie bitten alle Berlinerinnen und Berliner, „sich jetzt für die Flüchtlinge einzusetzen, zu helfen und Hilfsangebote mit Spenden zu unterstützen“. Jede Tat, jede Geste zähle.

Alles wird getan, um Obdachlosigkeit zu vermeiden

In den ersten acht Monaten 2015 wurden knapp 20 000 Flüchtlinge untergebracht, nun könnten es mehr als doppelt so viele in der Hälfte der Zeit werden. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2014 waren es 12 227. „ Wir prüfen alles, um Obdachlosigkeit zu vermeiden, Gebäude in Landesbesitz und solche, die uns privat angeboten werden – und vorrangig Gebäude für viele Menschen“, sagte am Sonntag die Pressereferentin von Sozialsenator Mario Czaja (CDU), Monika Hebbinghaus. Auch das Flughafengebäude in Tempelhof und das asbestbelastete ICC „werden ernsthaft geprüft“. Bei diesen Objekten ergäben sich aber enorme Herausforderungen bei Brandschutz und Sicherheit, da tausende Menschen wie in einer Art Dorf zusammenleben müssten. Zeltdörfer seien nicht auszuschließen, sollten aber so lange wie möglich vermieden werden, heißt es in der Sozialverwaltung. Man hoffe auf „noch mehr Synergien“ dank der neuen Koordinierungsstelle Flüchtlingsmanagement. Bisher war das Verfahren zur Identifizierung freier Immobilien sehr bürokratisch.

Derzeit buchen nach Tagesspiegel-Informationen viele Flüchtlinge Bus-Transportunternehmen aus Bayern und lassen sich nahe dem Lageso an der Turmstraße absetzen. 300 bis 800 Asylsuchende kommen jeden Tag neu an, zudem stellen sich weitere rund 1200 bis 1700 Menschen in die Schlange, weil sie auf einen Termin warten. Viele von ihnen vertrauen nicht auf die behördliche Zusage, dass ein ambulanter Sachbearbeiter zu ihnen in die Notunterkunft kommt.

Fünf Wochen warten auf den Erstantrag

Die Wartezeit für den ersten Termin beim Sachbearbeiter im Lageso beträgt drei bis fünf Tage. Der sagt, nach elektronischem Abgleich, ob der Wartende in Berlin oder in einem anderen Bundesland einen Leistungsantrag stellen kann. Bis Ende Juli wurden Berlin nach Angaben des Bundesamts für Migration 14 475 Antragsteller zugeteilt. Der Termin für einen Erstantrag nach dem Asylbewerberleistungsgesetz liegt mangels Personal erst rund fünf Wochen später. Während der Wartezeit wird pro Person zur Überbrückung ein Abschlag pro Tag in Höhe von rund sechs Euro im Schnitt ausgezahlt.

Wie viele abgelehnte Asylbewerber in die Heimat zurückreisen, war am Sonntag nicht zu klären. Laut Sozialverwaltung wird im Lageso in Kürze auch an den Wochenenden im Schichtbetrieb gearbeitet. Die 220 freiwilligen Mitarbeiter anderer Verwaltungen würden geschult. Die Caritas, die das Platzmanagement am Lageso regelt, regt eine Abendöffnung und eine Überdachung der Wartezone an. Es werde ein Infomobil und Kinderbetreuung geben.

Stadtmission regt Lauben als Unterkünfte von Freiwilligen an

Senator Czaja fordert, der Bund müsse die Erstaufnahme übernehmen. Die Berliner Stadtmission regt an, der Bund solle verlassenen Gemeinden in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern finanzielle Anreize bieten, damit sie dank der oft sehr gut qualifizierten Syrer die Region wiederbeleben. Berlin müsse flexibler bei Arbeitserlaubnissen werden, die Flüchtlinge kämen hoch motiviert an und würden zur Passivität gezwungen. Man solle auch prüfen, ob Berliner beispielsweise Laubenkolonien als Unterkunft anbieten wollen und dies flexibel ermöglichen. Die Stadtmission fordert einen „Berliner Gipfel“ für innovative Asylpolitik.

Barbara John fordert mehr Hilfen für Flüchtlingslager nahe Syrien

Die frühere Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John sagte, es müsse statt einer Asyl- eine neue Flüchtlingspolitik geben. Europa müsse dringend die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern vor Ort in Absprache mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen verbessern, damit weniger Flüchtlinge den Weg nach Europa suchen. Anträge müssten die Menschen in den Herkunftsländern selbst stellen können – vor allem Frauen, Alte und Kranke.

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