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Brauchen wir eine neue Ostpolitik?

75 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen, dem Beginn des Zweiten Weltkrieges belastet der Konflikt über künftige Ausrichtung der Ukraine und die Annexion der Krim durch Russland die Beziehungen zwischen Russland und der EU und der NATO. Alte und neue Feindbilder werden geschürt. Bedrohungsszenarien auf beiden Seiten behindern eine friedliche Konfliktregelung. Sicherheit und Frieden in Europa sind aber nur möglich, wenn die beiderseitigen Sicherheitsinteressen anerkannt und zur Grundlage einer Verständigung gemacht werden. Welche Möglichkeiten gibt es um den Konflikt zu bewältigen. Welches Konzept europäischer Sicherheit mit Russland ist auf Dauer tragfähig?

Ich freue mich, dass auf Initiative meiner Gewerkschaft ver.di wieder Diskursangebote zur Entspannungs- und Abrüstungspolitik geführt werden. Das zeigt: Die Friedensbewegung ist keineswegs tot! Zur Diskussion „Brauchen wir eine neue Ostpolitik?“ hatte am 26. August 2014 Dr. Wolfgang Uellenberg, Leiter Politik und Planung, ver.di Bundesverwaltung, als Experten Rolf Mützenich, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, Dr. Andreas Heinemann-Grüder, Mitautor des Friedensgutachten 2014, und Reiner Braun, Sprecher der Kooperation für den Frieden, in die Köpenicker Straße 30 eingeladen.

Friedensaktivitäten müssen heute eine weltpolitische Konstante nachweisen

Angesichts der zahlreichen Krisenherde der Welt, u.a. im Verhältnis Russland und Ukraine, verwies Rolf Mützenich darauf, dass seitens der Bundesregierung derzeit überwiegend nur Krisenmanagement gemacht werden könne. Notwendig sei es aber die auf Langfristigkeit angelegten Instrumente der Entspannungspolitik „mit Vertrauen“ zu untersetzen. Im Jahr 2014 stehen wir „vor einer Zeitenwende, in der die Regeln und Normen der internationalen Politik zunehmend erodieren“. Die über Jahrzehnte geschaffenen Regeln und Normen der internationalen Politik seien zu stärken. Wir brauchen eine internationale Ordnung, die auf gemeinsame Interessen, auf Einvernehmen, auf Kooperation und Mitgestaltung gründet. Diese Errungenschaften dürfen trotz aller Rückschläge nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Wir müssten eine Ordnung schaffen, die auf dem Völkerrecht und dem Prinzip der Friedfertigkeit beruht. Wirksame Regeln und Mechanismen der Konfliktregelung, der Schieds- und Strafgerichtsbarkeit, die auf verbindlichen Prinzipien aufbauen, sind vorhanden und hätten u.a. dazu beigetragen, den Ost-West-Konflikt friedlich zu beenden. Auch die vorhandenen Instrumente der Abrüstung und Rüstungskontrolle müssten wieder stärker genutzt werden. Wir brauchen trotz und gerade wegen der Ukraine-Krise einen Neustart bei der konventionellen Rüstungskontrolle, einen neuen KSE-Vertrag. Europa werde wird nicht umhin kommen, seine Außen- und Sicherheitspolitik effizienter zu gestalten. Es wäre hier schon viel gewonnen, wenn die 28 EU-Außenminister künftig ihrer Außenpolitik-Beauftragten mehr Handlungsfreiheit zugestehen würden und eine stärker integrierte Sicherheitspolitik betreiben würden. Zudem sollten die OSZE und ihre Instrumentarien wie das Konfliktverhütungszentrum dringend gestärkt werden. Darüber hinaus muss sich künftige Außenpolitik zunehmend direkt den Ursachen innergesellschaftliche Konflikten widmen. Hier liege auch eine wichtige Rolle für die Gewerkschaften. Die Behebung von sozialen Katastrophen sei eine auf Langfristigkeit angelegte Herausforderung. Friedenspolitik müsse in der Zivilgesellschaft, in den Parlamenten, „auf der Straße“ wieder viel stärker als im Augenblick eine gewichtige gesellschaftspolitische Rolle spielen.

Friedensforscher Dr. Andreas Heinemann-Grüder bekräftigte, dass der völkerrechtswidrige Anschluss der Krim an Russland und die anhaltende Destabilisierung der Ostukraine die Europäische Union vor eine ihrer größten Herausforderungen stellt. Er fragt sich, ob die EU mit ihren Institutionen, Instrumenten und operativen Fähigkeiten imstande ist, sie zu bewältigen? Die Politik der Europäischen Union, mit dem Assoziierungsabkommen die Ukraine faktisch vor ein Entweder-Oder zu stellen, war ein folgenreicher Fehler gewesen. Dadurch würde weder die fragile Situation dieses regional und kulturell gespaltenen Landes berücksichtigt noch würde dadurch besondere Sensibilität gegenüber Russland bewiesen. Als sich die EU mit der Opposition auf dem Maidan gegen das Regime solidarisiert hätte, mit dem sie zuvor einen Vertrag abschließen wollte, habe sie die innenpolitische Polarisierung vertieft und sich selbst als Mediatorin und Konfliktbearbeiterin ausgeschlossen. Gefordert wird eine Neuausrichtung der Europäischen Nachbarschaftspolitik: Die EU müsse alles tun, um eine Vertiefung der Grenzen in Europa bis hin zu einer neuen Blockbildung zu verhindern. Ziel muss vielmehr eine selbstbestimmte Ukraine als verbindende Brücke zwischen EU und Russland sein. Das erfordere ein hohes Maß an nationaler Versöhnung und Integration.

„Der Westen“ habe an Glaubwürdigkeit verloren, meinte Reiner Braun Kooperation für den Frieden. Hinsichtlich des Völkerrechts habe in der Vergangenheit doch häufig eine “westliche Doppelmoral“ geherrscht. Russland habe vom Westen gelernt und sich ein „Informationsmonopol“, u.a. auch über die sozialen Medien geschaffen. Auch deutsche Informationsquellen seien nicht immer glaubwürdig. Das Gerede vom Kalte Krieg sowohl der USA als auch Russlands sei kontraproduktiv. Die NATO habe in der Ukraine nichts zu suchen. Vermisst wird mehr Prävention.

Reden, reden, reden

Verhandlungen, Gespräche, Mediation und zivile Konfliktbearbeitung seien das Gebot der Stunde. Meine Kollegin Ute Finckh-Krämer verweist darauf, dass auch in den Aktionen Europas Respekt voreinander viel deutlicher werden müsse. Hier vor Ort gäbe es zahlreiche Möglichkeiten des Austausches und der Konfliktregulierung: durch die vielen Städtepartnerschaften, durch die „Diaspora-Gemeinden“. Sehr viel stärker sei noch zu analysieren, was es bedeute, dass nun - anders als zu Zeiten des Kalten Krieges – sich nicht mehr nur zwei Wirtschaftssysteme, das östliche und das westliche, gegenüberständen. Durch die Herausbildung zahlreicher Staaten sei jetzt von einer Differenzierung auf der östlichen Seite auszugehen.

Auch 100 Jahre nach dem 1. Weltkrieg gilt: Frieden kann nur durch das Handeln der Menschen gesichert und erreicht werden. Die Bundesregierung ist in der Tradition von Willy Brandt aufgefordert, durch das Primat der Diplomatie alles zu tun, damit sich Ausgleich und Versöhnung, Verhandlungen und zivile Konfliktbearbeitung durchsetzen.

v.l.n.r. Rolf Mützenich, Dr. Andreas Heinemann-Grüder, Dr. Wolfgang Uellenberg, Reiner Braun