Den Tag der Geburt ihres zweiten Sohnes wird Mira Dobrosavljević nie vergessen. 20 Jahre war die Näherin jung, als sie am 2. November 1989 im Krankenhaus der serbischen Industriestadt Pančevo einen völlig gesund wirkenden Jungen zur Welt brachte. "Sie gaben ihn mir zum Stillen. Er schien meinem verstorbenen Vater zu ähneln", erinnert sich die 46-Jährige traurig lächelnd: "Es war ein Wunschkind. Ich war glücklich."

Doch ihre Freude sollte sich bald in Entsetzen und lebenslangen Gram wandeln. Am nächsten Tag eröffnete ihr eine Ärztin, ihr Kind sei wegen "Komplikationen" in eine Klinik der nahen Hauptstadt Belgrad gebracht worden. Drei Tage später erhielt ihr Mann ein Telegramm, dass das Kind verstorben sei: "Mein Mann fragte, ob wir das Kind beerdigen könnten. Sie sagten, nein, das macht das Krankenhaus." Die betrübten Eltern nahmen die Auskunft klaglos hin: "Wir glaubten im damaligen Jugoslawien noch an den Staat. Es wäre mir bis dahin nie in den Sinn gekommen, an den Angaben offizieller Stellen zu zweifeln."

Inzwischen hat Mira Dobrosavljević das Vertrauen in ihren Staat längst verloren. Denn nach jahrelanger Spurensuche ist sie überzeugt: Er wurde ihr geraubt und an zahlungswillige Ersatzeltern verkauft. Doch egal, bei welcher Behörde sie anklopfte, die meisten Türen blieben ihr verschlossen: "Sie sagten, ich sei verrückt und hätte mir alles ausgedacht. Aber ich bin zu hundert Prozent sicher, dass mein Sohn am Leben ist."

Mira Dobrosavljević ist kein Einzelfall. Mehrere Tausend Mitglieder zählt die "Vereinigung der Eltern der verschwundenen Babys" (URNBS), die seit Jahren in Belgrad um die Aufklärung des Schicksals ihrer kurz nach der Geburt für tot erklärten Kinder streitet. Auf 6.000 bis 10.000 wird die Zahl angeblich verstorbener Säuglinge geschätzt, die in den letzten fünf Jahrzehnten auf dem Weg von der Klinik zur Obduktion "verschwunden" sind.

Manipulierte Geburtsregister und Totenscheine

Selbst eine erheblich geringere Zahl sei "absolut nicht zu akzeptieren", sagt Serbiens Datenschutzbeauftragter Rodoljub Šabić: "Jahrelang hat der Staat das Problem ignoriert und nichts getan." Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verlangt Aufklärung. In einem Musterprozess verurteilte er den serbischen Staat bereits im vergangenen Jahr zu einer Entschädigungszahlung von 10.000 Euro an die Mutter eines 1983 verschwundenen Säuglings, weil die Behörden ihr glaubwürdige Informationen über das Schicksal ihres Sohnes vorenthalten hätten.

Nicht nur widersprüchliche Todesscheine und manipulierte Klinikprotokolle und Geburtsregister mehren bei den betroffenen Eltern den Verdacht, dass ihre Kinder geraubt und für viel Geld an Adoptiveltern im In- und Ausland verscherbelt wurden. In zumindest 42 der rund 3.000 von ihr bearbeiteten Fällen hat die Elternvereinigung mithilfe von DNA-Analysen die oft bereits erwachsenen Kinder aufspüren können. Aber die Staatsanwaltschaft weigert sich dennoch, Ermittlungen aufzunehmen, mit der Begründung, die DNA-Analysen seien von privaten Kliniken vorgenommen worden.

Selbst in einem Fall, bei dem Mutter und Tochter gemeinsam Klage eingereicht hatten, lehnte es die Justiz nach Angaben  des Verbandsvorsitzenden Vladimir Čičarević ab, tätig zu werden. Die Organisation hat sich deshalb an Ministerpräsident Aleksandar Vučić und den Justizminister gewandt. Bis heute ohne Ergebnis.

Neue Fälle aus jüngster Zeit

Der erste Fall von mutmaßlichem Babyraub sei 1957 in Kruševac angezeigt worden, berichtet der 34-jährige Verbandschef. Bis in die 1980er Jahre sei in Serbien an jedem zweiten Tag mindestens ein Baby verschwunden. Der Beteuerung von Gesundheitsminister Zlatibor Lončar, dass der Kinderraub einer "fernen Vergangenheit" angehöre, widerspricht der Mann, dessen eigener Sohn 2003 in einer Belgrader Geburtsklinik verschwand.

Der letzte von seiner Organisation dokumentierte Fall liegt sieben Monate zurück; eine weitere, noch nicht überprüfte Anzeige sei erst vor zwei Monaten eingegangen: "Es verschwinden in Serbien noch immer Kinder. Warum sollte der Babyraub auch aufhören, wenn man den Tätern den Raum dafür lässt?"