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»Deine Stimme für Dein Europa«

Im Juni 1979 wählen 180 Millionen Europäer von den Färöer-Inseln bis zur Südspitze Siziliens die Mitglieder des Europäischen Parlaments. Sozialisten, Christdemokraten und Liberale, aber auch Trotzkisten und Neofaschisten haben sich in Aufbruchstimmung versetzt. Europa soll »ein neues Kapitel seiner Geschichte aufschlagen«.
aus DER SPIEGEL 1/1979

Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.

Konrad Adenauer 1954

Drei Jahrzehnte lang waren die

Realitäten stärker als alle Träume, Hoffnungen und selbst die Notwendigkeiten. 1979 aber soll das Jahr Europas werden.

Nun endlich, so glauben die Unverzagten unter den Europäern, werden längst begrabene Hoffnungen doch noch in Erfüllung gehen: Zum erstenmal in ihrer von Krieg und Wortkrieg geprägten Geschichte sollen die Europäer gemeinsam ein gemeinsames Parlament wählen -- wichtigstes Fundament einer demokratisch verfaßten Staatengemeinschaft.

Zwar nicht an einem einzigen Tag, aber immerhin an den vier aufeinanderfolgenden Tagen vom 7. bis zum 10. Juni werden 180 Millionen Wahlberechtigte der neun Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) von den Färöer-Inseln bis zur Südspitze Siziliens, von den Pyrenäen bis an den Belt insgesamt 410 Volksvertreter in direkter Wahl bestimmen und in Straßburgs »Palais de d'Europe« entsenden.

Vorher schon, mit dem Neujahrsmorgen '79, tritt jenes Europäische Währungssystem (EWS) in Kraft, das Deutschlands Kanzler Schmidt und Frankreichs Präsident Giscard d'Estaing ausgebrütet haben.

So umstritten unter Fachleuten ist, ob diese Erfindung die EG tatsächlich wirksam vor den Folgen sich jagender Dollar-Flauten schützen wird -- es war ein politischer Erfolg, daß schließlich alle EG-Staaten bis auf Großbritannien dem OEuvre von Giscard und Schmidt beitraten.

Oberhaupt diese beiden! Wie Kaiser (Giscard) und Kanzler (Schmidt) eines künftigen Großeuropa managen sie selbander vieles, zwei einander wesensverwandte Patres patriae eines Zukunftsstaates der autoritätsgläubigen Menschen, sauberen Finanzen und ordnenden Vernunft.

Und ihr Reich wächst noch: 1981 wird Griechenland der Gemeinschaft beitreten, wenig später sind Portugal und Spanien dran. Wem sollte soviel Zukunftsmusik nicht die Ohren klingen lassen!

»Das europäische Einigungswerk«, heißt es im Programm der SPD zur Europa-Wahl, »rückt in greifbare Nähe.« Mit diesem Parlament werde Europa jetzt »ein neues Kapitel seiner Geschichte aufschlagen«. Für die CDU ist offenkundig, daß Europa nun stark genug sei, »seine Zukunft zu meistern«.

Es tönt wieder europäisch in Sitzungssälen und Kongreßhallen. »Aufbruchstimmung, die an die ersten Nachkriegsjahre erinnert, als die Kriegsgeneration davon träumte, Europa sofort zu vereinigen«, freuten sich die Teilnehmer einer Wahlveranstaltung europäischer Christdemokraten in Paris.

Und, wie bislang immer noch, wenn Europa zum Aufbruch drängte, gaben die Europäer verwirrende Proben ungebrochener politischer, freilich zuvörderst gedanklicher Vitalität, die zu weitgespannten Hoffnungen wie auch zu größtem Pessimismus berechtigten.

So wagten Deutschlands Sozialdemokraten für die Europawahl ein Programm linker Utopie, als ständen sie in Frankreich oder Italien und nicht daheim zur Wahl, wo der Widerspruch zu den handelsüblichen liberalen Schwüren übel vermerkt werden könnte.

So leistete sich Frankreichs stärkste Regierungspartei, das gaullistische RPR, einen parteiinternen Guerillakrieg zwischen Europa-Freunden und Europa-Feinden. als stehe im Juni die Existenz des geheiligten französischen Zentralstaates auf dem Spiel.

Der Europa-Wahlkampf begann, heftiger als erwartet, bereits zehn Monate vor dem Urnengang. Seither tagen nicht nur Sozialisten, Konservative und Liberale; auch Randgruppen mit kleiner Anhängerschaft, aber großer Vergangenheit, faßten erneut Tritt. Sogar die von Ernest Mandel und Alain Krivine geführte IV. Internationale der Trotzkisten will sich an den Wahlen beteiligen und hielt bereits im November in Brüssel ihre erste Europa-Tagung ab. Anfang Dezember trafen sich 50 Vertreter der revolutionären Linken Europas im kleinen Bergdorf Agape bei Turin, um ihre Linie für die EG-Wahlen festzulegen.

Auf der Gegenseite phantasierten sich Ultrarechte und Neofaschisten ein Europa-Programm zusammen. Am 10. November gründeten Italiens Neofaschisten der MSI, die ultrarechte Gruppe PFN aus Frankreich und die spanische Fuerza Nueva in Marseille die »Furorechte«. Ihr revanchistisches Ziel: »Das ganze Europa von Cork bis Konstanza, von Kirkenes bis Cádiz, von Brest bis Brest-Litowsk.«

Mehrere Millionen Mark fließen aus den Brüsseler EG-Kassen in die Mitgliedsländer als Wahlbeihilfe. Im Oktober 1978 steckte ein holländisches nationales Komitee etwa fünf Millionen Gulden in eine Kampagne, in der die Einheimischen über das künftige Europa ins Bild gesetzt werden sollen. Andere Staaten wollen dem Beispiel folgen.

Auch die Parteien bekommen für den Wahlkampf in den meisten Mitgliedsstaaten zusätzliche Steuergelder, um das Wählervolk auf die neue Europa-Perspektive einzustimmen -- in der Bundesrepublik ebensoviel wie für einen Bundestagswahlkampf: 3,50 Mark pro Wahlberechtigten.

»Deine Stimme für Dein Europa«, lautet die Europa-Kampagne in Italien. »Europa -- das ist die Hoffnung«, verspricht ein Slogan, der ab Januar

in Frankreichs Großstädten an den Fassaden prangen soll. Ein spezielles Segelschiff, vom früheren EG-Ratspräsidenten und belgischen Premier Leo Tindemans »Traité de Rome« (Römischer Vertrag) getauft, segelte mit einer internationalen EG-Crew von der Nordsee bis nach Afrika, um für die Direktwahlen zu werben. Sieben der neun EG-Staaten werden das Ereignis mit Sonderbriefmarken feiern. »Wie durch ein Wunder frei und glücklich werden.«

In speziellen Europa-Seminaren bringen die Parteien ihre Kandidaten auf Kurs. Werbeagenturen wurden unter Vertrag genommen, um Signets und Parolen zu entwerfen, die von Südfranzosen ebenso verstanden werden sollen wie von Friesen oder Schotten: Ihre Leitideen wollen die großen Parteien gesamteuropäisch formulieren -- auch wenn sie dadurch abstrakt werden.

»Freiheit und Sozialismus« steht auf Plakaten italienischer Sozialisten, die auch in der Bundesrepublik bei den Gastarbeitern Reklame machen sollen. »Freiheit statt Volksfront« möchte die bayerische CSU den Europäern bieten. Ihre Parteispitze hält die Idee der CDU ("Politik für die Freiheit -- Glück für die Menschen") nicht für zugkräftig.

Glück für die »Vereinigten Staaten von Europa« hatte schon Winston Churchill 1946 prophezeit. Inzwischen hat die europäische Integration, dieses Heilmittel, das Europa in den Augen Churchills »wie durch ein Wunder ... innerhalb weniger Jahre ... frei und glücklich machen« sollte, die Staaten der EG wenn nicht glücklich, so doch mächtig werden lassen.

Heute sind die neun EG-Staaten die größte Handelsmacht der Welt. Ihre Einwohner, etwa 6,1 Prozent der Weltbevölkerung, bringen rund ein Viertel des Welt-Sozialprodukts auf und finanzieren mehr als ein Drittel der Welt-Entwicklungshilfe.

Nächst den USA ist die Europäische Gemeinschaft die größte Wirtschaftsmacht der Welt. Zahlreiche Assoziierungsverträge und Kooperationsabkommen sichern den Warenaustausch mit Drittländern, der 1977 bereits 430 Milliarden Mark überstieg. Seit 1975 besteht auch ein Abkommen mit nunmehr 55 Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks, das den Entwicklungsländern die zollfreie Abnahme fast aller ihrer Produkte sichert.

Im Gegensatz zur Potenz der EG-Wirtschaftsmacht blieb die politische Zusammenarbeit im Innern jedoch kümmerlich, erhielten die zur Kontrolle der EG-Verwaltung geschaffenen Organe keine durchgreifenden Kompetenzen. Denn die über den Brüsseler Eurokraten thronenden Minister der neun Mitgliedsstaaten schachern meist zum eigenen Vorteil -- und der gereicht nur selten auch dem Ganzen zum Nutzen.

Vor allem wenn angestammte Machtbereiche eingeschränkt werden sollten, geriet die Integration sogleich ins Stocken, und es stellte sich heraus: Nationale Souveränität bedeutet weit mehr als europäischer Gemeinschaftssinn, Eigennutz geht stets vor. Briten, Franzosen und Deutsche. aber auch die anderen Mitglieder überboten sich geradezu, die Gültigkeit dieser Tatsache nachzuweisen. Europa mußte mit seinen Vaterländern leben.

Der europäische Einigungsprozeß kam aber auch zum Stillstand, weil die alten Modelle für den Aufbau einer Gemeinschaft von der Entwicklung überrollt wurden.

Anfang der 50er Jahre glaubten die Europa-Begeisterten noch an eine mächtige Zentralgewalt, die eines Tages als europäische Bundesregierung über die einzelnen Gliedstaaten herrschen werde: nach dem Vorbild USA.

Doch bereits 15 Jahre später kam vor allem im zentralistischen Frankreich, aber auch in Belgien und Italien, die Gegenbewegung in Schwung: Regionalismus, Minderheitenschutz und Selbstbestimmungsrechte galten mehr als der zwar effiziente, aber bürgerferne Apparat der Brüsseler EG-Zentrale.

Die Theorie vom »Europa der Regionen« kam auf: Nur die ausdrückliche Respektierung der regionalen Eigenarten könne Spannungen zwischen Völkern und Nationen -- wie zwischen Wallonen und Flamen oder Schotten und Engländern abbauen. Eine mächtige Zentralgewalt hingegen führe Europa in den Bürgerkrieg. Sogar Frankreichs machtbewußter de Gaulle gestand 1968 ein: »Das Jahrhunderte währende Streben nach Zentralisierung, das für Frankreich notwendig war, um seine Einheit zu verwirklichen und zu wahren, ist jetzt nicht mehr zwingend. Im Gegenteil, nun wird die regionale Aktivität zur Quelle der wirtschaftlichen Macht von morgen.«

Die meisten Franzosen, Gaullisten wie Kommunisten, lehnen seither einen europäischen Bundesstaat -- etwa nach Art des Viersprachenstaates Schweiz -- ab und verteidigen die volle Souveränität ihres Staates. Dann allerdings bliebe die EG, was sie zur Enttäuschung vieler Europäer bislang war: kaum mehr als eine Zoll- und Agrarunion, kaum mehr als ein Zweckverein. Die Europa-Politik in die Hände der Regierungen gelegt.

In der föderalistischen Bundesrepublik hingegen lief der Trend entgegengesetzt: Ende der 60er Jahre, als in Frankreich und Italien die Regionalisierung betrieben wurde, leiteten die deutschen Bundesländer Reformen ein, ihre Verwaltungen zu rationalisieren und zu zentralisieren. Gleichzeitig versuchte die sozialliberale Koalition in Bonn, Kompetenzen von den Bundesländern in den Bund zu verlagern -- im Glauben, der alte Föderalismus sei Hemmschuh einer Reformpolitik.

Für die Bonner Regierung war es darum nur logisch, das gleiche Konzept auch auf europäischer Ebene zu verfechten. So wurde jede Machtausweitung der Brüsseler Behörden als Zuwachs an Einheitlichkeit und Effizienz begrüßt. Je mächtiger Brüssel werde, hieß es in Bonn, desto weiter sei auch die Einheit Europas fortgeschritten.

Dieses Europa-Verständnis der Deutschen wiederum weckte bei den Nachbarn den Argwohn, die westdeutsche Wirtschaftsmacht wolle durch die Brüsseler Behörden ihren Einfluß in der EG zu Lasten der anderen, schwächeren Mitglieder ausdehnen.

So war denn nur wenige Jahre nach dem mit Prunk und Pomp gefeierten deutsch-französischen Freundschaftsvertrag die Angst vor den vermeintlich machtgierigen Deutschen wieder da.

Oft genügten bereits ein zweideutiges Wort, eine mißverständliche Geste der Brüsseler Funktionäre, und schon traten Deutschland-Gegner und Regionalisten Schulter an Schulter gegen Europa auf.

Dem Druck konnten die »vaterlandslosen Eurokraten« (de Gaulle) in Brüssel nicht standhalten: Die von den Regierungen unabhängigen politischen Organe der EG, Kommission und Parlament, verloren an Gewicht. Dafür zog der von den Regierungen direkt gesteuerte Ministerrat die Macht an sich, »auch wenn nach dem Gründungsvertrag die Entscheidungsbefugnis gar nicht in seinen Händen lag«, wie Bundeskanzler Schmidt später eingestand.

Allerdings entmachteten Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing 1974 auch noch den Ministerrat: Um die Europa-Politik ganz in die Hände der Regierungen der Mitgliedsstaaten zu legen, gründeten sie den »Europäischen Rat«, eine dem Ministerrat übergeordnete Konferenz der Regierungschefs.

Mit dieser neuen »Europäischen Politischen Zusammenarbeit« (EPZ) sollten nach Ansicht Helmut Schmidts nun endlich »die Entscheidungen über Angelegenheiten der Römischen Verträge und die Entscheidungen in der Außenpolitik in einem Zentrum zusammengeführt werden«.

Die neue Kombination von Regierungschef und EG-Manager brachte zwar eine spürbare Straffung der früher langatmigen, meist unergiebigen EG-Palaver; aber auch eine dem Geist der Römischen Verträge widersprechende Machtballung ohne demokratische Kontrolle.

Der EWG-Gründungsvertrag von 1957 hatte die »Versammlung« als künftiges Europäisches Parlament bereits vorgesehen. 198 Abgeordnete werden seither von den einzelnen Parlamenten nach Luxemburg delegiert.

Allerdings fehlen den EG-Abgeordneten die wichtigsten Befugnisse sonstiger Parlamente: Sie dürfen keine Gesetze erlassen und aus ihrer Mitte keine Regierung bilden.

Statt dessen haben sie lediglich das Recht, beim Haushaltsplan Abänderungen vorzuschlagen, die Kommission wie den Ministerrat zu befragen und den Jahresbericht der EG-Kommission zu begutachten. Vor allem aber: Durch Mißtrauensvotum zum Jahresbericht können sie die Kommission zum Rücktritt zwingen -- was indes noch nie passierte.

Das alles sollte aber nur ein Anfang sein. Denn die Römischen Verträge enthielten die Vorschrift, die Demokratisierung der EG durch Wahlen voranzubringen und die Mitwirkungs- und Kontrollbefugnisse auszuweiten. Bringt die Direktwahl

dem Parlament mehr Macht?

Doch nichts Derartiges geschah. Denn mit dem Machtverlust der Quasi-Regierung, der Kommission, war auch die Rolle des Parlaments schon auf dem Papier bedeutungslos geworden.

Zum Gespött der Anti-Europäer pendeln die machtlosen EG-Abgeordneten nun seit 21 Jahren zwischen Luxemburg (Sitz des Generalsekretariats), Straßburg (Plenarsitzungen) und Brüssel (Fraktions- und Ausschußsitzungen) ohne rechten Sinn hin und her, verpulvern Spesen und Diäten. Eine vom Franzosen Georges Vedel geleitete Arbeitsgruppe kam schließlich zu dem Ergebnis, daß ein mit Befugnissen ausgerüstetes Parlament direkt gewählt (und nicht delegiert) werden müsse -- daß aber auch umgekehrt Volkswahlen ohne umfassende Machtausweitung des Parlaments unsinnig seien.

Auf dem Pariser Gipfel im Dezember 1974 wollten Giscard und Schmidt die Folgerungen des Vedel-Berichts auch beherzigen: Als Gegengewicht zum Europäischen Rat der Regierungschefs sollte die EG nun endlich ein direkt gewähltes, mächtigeres Parlament bekommen. So wurde feierlich beschlossen: »Die Kompetenzen des Europäischen Parlaments werden insbesondere durch die Übertragung bestimmter Befugnisse im Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaften erweitert.«

Mit diesem Versprechen wurde aber auch das im heutigen Wahlkampf vielbenutzte »Zirkel«-Argument erfunden: daß Direktwahl und Machtausbau des neuen Parlaments einander bedingen -- eine Formel, die der von den Gaullisten unter Druck gesetzte Giscard heute nicht mehr hören will.

So klagten denn die Gegner der Wahlen in Großbritannien, Dänemark und Frankreich die Befürworter sogleich an, sie mißachteten die nationale Souveränität ihres jeweiligen Vaterlandes und wollten fremden Mächten, etwa Brüssel. zur Herrschaft verhelfen.

* In Brüssel: r.: Premier Heath, l.: Außenminister Douglas-Home.

Erst nach drei weiteren Gipfeltreffen einigten sich die Außenminister am 20. September 1976 in Brüssel, die Mitgliedsstaaten durch Vertrag zur Durchführung der Wahlen zu zwingen -- vom Ausbau der Befugnisse des Parlaments war nicht mehr die Rede.

Selbst der Wahltermin mußte schließlich um ein ganzes Jahr verschoben werden, weil die zerstrittenen Europäer sich nicht über den Wahlmodus, nicht mal über den künftigen Sitz des Parlaments einigen konnten.

Erst nach vielen Mühen legten endlich die Regierungschefs am 8. April 1978 in Kopenhagen den Wahltermin auf Juni 1979 fest. Da aber ein einheitliches Wahlverfahren fehlt, wird jedes Land nach eigenen Gesetzen verfahren -- und wer überhaupt nicht wählen lassen will, darf die Abgeordneten wie bisher ernennen.

Doch der Streit fängt wohl erst richtig an. Denn die Anti-Europäer fürchten, die einmal direkt gewählten Parlamentarier würden sich die Befugnisse doch noch beschaffen, die der heutigen EG-Versammlung fehlen.

Tatsächlich haben sich sämtliche bundesdeutschen und italienischen Parteien, die sich am Wahlgang beteiligen, die Machtausweitung ins Programm geschrieben -- und die Gegner mobilisiert. Willy Brandt: »Das Europaparlament soll ein Verfassungsorgan werden«, Grund genug für Moskau, gegen eine Teilnahme West-Berlins an so etwas zu protestieren.

In Frankreich versuchte Gaullisten-Führer Jacques Chirac, mögliche antieuropäische Sentiments gegen den Staatspräsidenten Giscard d'Estaing zu mobilisieren. In einem feierlichen, de Gaulle nachgeahmten »Appell« an die Franzosen bezichtigte er den Staatschef in kaum verhüllter Form, die »Partei des Auslandes« zu vertreten. Als Justizminister Alain Peyrefitte den Staatschef gegen diesen »unzulässigen Angriff« verteidigte, legte Chirac dem Minister nahe, seine Partei zu verlassen.

Um Frankreich vor Europa zu retten, taten sich die Gaullisten sogar mit den von ihnen stets verteufelten Kommunisten zusammen. Am 11. Dezember im Parlament stimmten sie gemeinsam für ein Gesetz, das den Parteien die Annahme von Wahlkampfgeldern aus den Kassen der EG verbietet. Das in Wahrheit gegen die Idee der Direktwahl gerichtete Verbot wurde prompt mit 246 gegen 124 Stimmen angenommen.

Für den früheren Premier und Gaullisten Michel Debré sind die Direktwahlen ohnehin ein glatter »Betrug«. Als Feind jedes Hauchs von Supranationalität findet er es auch unsinnig, »ein von Deutschen und Franzosen beschlossenes Gesetz in England« anzuwenden.

Die meisten Engländer würden Debré gewiß zustimmen. Sie klagen ohnehin über das angebliche Verlustgeschäft, das Großbritannien seit Jahren mit der EG mache, der es 1972 feierlich beigetreten war. Englands Energieminister Anthony Wedgwood Benn etwa ist der Ansicht, Bonn habe das Europäische Währungssystem nur erfunden, um seine Konkurrenten in der EG mit der neuen Geldpolitik lahmzulegen.

In der regierenden Labour Party haben die Anti-Europäer längst die Oberhand. Sie zwangen ihren Premier Callaghan, für den Beitritt Englands zum Währungssystem unannehmbare Bedingungen zu stellen -- der Beitritt kam nicht zustande.

Sie drohten aber auch, den Austritt Großbritanniens aus der EG durchzufechten, wenn die Beiträge des Inselstaates zur Brüsseler EG-Kasse -- derzeit etwa 6,3 Milliarden Mark -- nicht drastisch gesenkt werden (siehe Seite 39).

Ende Oktober versammelte sich der linke, anti-europäisch eingestellte Parteiflügel, um gegen die Europa-Sympathisanten Gegenkandidaten durchzudrücken. Die frühere Ministerin Barbara Castle etwa, eine glühende Europa-Gegnerin, wurde nominiert, ebenso Ron Leighton, Chef des absurden EG-feindlichen »Komitees zur Rettung vor dem Gemeinsamen Markt«.

Die Anti-Europäer in der Regierungspartei sorgten schließlich auch dafür, daß in England die Verabschiedung der Wahlgesetze und die Einteilung der Wahlkreise aufs äußerste verzögert und keine endgültigen Kandidatenlisten aufgestellt wurden: Die Labourregierung läuft Gefahr, unter dem Druck der Partei-Linken doch noch weich zu werden.

Total ins anti-europäische Lager umkippen kann die Minderheitsregierung aber vorerst nicht, denn sie steht unter Gegendruck von rechts: Die oppositionellen Tones befürworten, wenn auch mit britischer Zurückhaltung, die Direktwahlen. Hilfe geben dem Premier die britischen Liberalen, die beharrlich an ihrem Europakurs festgehalten haben.

Überhaupt fanden sieh die liberalen Parteien in der EG als erste zu einer internationalen Aktionsgemeinschaft für die Europawahlen: Unter Führung des Luxemburger Ministerpräsidenten Gaston Thorn, der Bonner FDP und der französischen Radikalsozialisten entstand die »Föderation der liberalen und demokratischen Parteien in der EG« mit einem einheitlichen Europa-Programm. Demzufolge soll das künftige Parlament »die Aufgaben einer verfassungsmäßigen Versammlung übernehmen und die Verfassung einer Europäischen Union ... ausarbeiten«.

Fast alle anderen Großen machten es den Liberalen nach und hoben supranationale Europa-Verbände aus der Taufe: Im Mai 1976 präsentierten die christdemokratischen Parteien ein loses Bündnis, die »Europäische Volkspartei« (EVP) mit Sitz in Brüssel. Mehrere Konferenzen folgten, auf denen vor allem die CDU-Oberen mit dem kommunistenfreundlichen Kurs des italienischen Christdemokraten Andreotti vertraut gemacht werden sollten.

Beim EVP-Kongreß im Februar 1978 wurde dann aber das nichtssagende klassische Europa-Leitbild der EG-Gründer aus den 50er Jahren aufgewärmt: »Der föderalistische Aufbau ist die Form, in der Europa seine Einheit gewinnt und seine Vielfalt bewahrt«, heißt es vage.

Die in der »Sozialistischen Internationale« organisierten Sozis hatten sieh bereits 1975 mit kecken Einheits-Thesen für eine starke Gemeinschaft in Szene gesetzt. Prompt gerieten Labour-Genossen und Mitterrand-Sozialisten ins Feuer interner Kritiker, die den Europa-Schwerpunkt auf Sozialismus, nicht auf Integration legen wollten.

Im Juni 1978 veröffentlichten dann die elf sozialdemokratischen Parteien eine gemeinsame »Politische Erklärung« zur Zukunft Europas. »Wir erkennen an«, hieß es nun, »daß jede weitere Übertragung von Befugnissen von nationalen Regierungen auf die Gemeinschaftsinstitutionen oder von nationalen Parlamenten auf das Europäische Parlament nur aufgrund eindeutiger Zustimmung der nationalen Regierungen und Parlamente stattfinden kann.«

Damit gaben die Sozis -- erheblich realistischer als etwa die Christdemokraten und Liberalen -- offen zu, daß eine auch nur einigermaßen geschlossene Partei für die ganze EG in Wahrheit nicht zu bilden ist. Gründungen wie die EVP werden von der SPD darum »Augenwischerei« genannt.

Noch realistischer geht es bei den Kommunisten zu -- aus gutem Grund. Die proeuropäischen Genossen in Italien und die antieuropäischen in Frankreich brachten Mitte Dezember nur eine nichtssagende Absichtserklärung zustande. Ein gemeinsames Aktionsprogramm, und wäre es noch so unverbindlich, ließ sich nicht fassen.

So kommt es, daß die Kommunisten, Erfinder des Internationalismus, als einzige Partei überhaupt ohne eine noch so locker supranationale Dachorganisation in den Wahlkampf ziehen.

Ob mit oder ohne Europa-Programm, die an der Regierung beteiligten Parteien jedenfalls wollen die Gelegenheit nutzen, ihre Wähler zu Hause in Sachen Europa zu testen, ohne daß dabei die Machtverhältnisse im eigenen Land zur Debatte gestellt werden müssen wie bei nationalen Wahlen.

Die Gaullisten etwa tragen trotz aller Auflehnung als Regierungspartei Giscards Europakurs zwangsläufig mit

sonst müßten sie die eigene Regierung stürzen. Die in England regierende Labour Party wiederum hat trotz des Widerstands ihres europafeindlichen linken Flügels das Europa-Kampfprogramm der Sozialisten mit

* Plakattext: »Das Europäische Parlament wird sich mit seinen derzeitigen Rechten nicht zufrieden geben. Helmut Schmidt -- Nein zu einem deutschen Europa -- wir wollen das Europa der Arbeiter.

unterschrieben. Und die SPD, im eigenen Land die betulich-bürgerliche Regierungspartei, profilierte sich im Dezember auf ihrem Kölner Europa-Parteitag plötzlich als Schrittmacher auf dem Weg zum demokratischen Sozialismus.

Keine andere Partei versucht so offenkundig wie die SPD, in Brüssel, Luxemburg und Straßburg einzufädeln, was im eigenen Land undurchführbar scheint, die 35-Stunden-Woche etwa oder das verfassungsmäßige Verbot der Aussperrung streikender Arbeitnehmer: Das Europa des Europa-Jahres 1979 präsentiert sich randvoll mit Widersprüchen.

Mag sein, daß das künftige Parlament, einmal gewählt und in Schwung, unter dem Druck der Parteien doch noch den Anstoß zum Wandel geben wird: zur Fortentwicklung der EG über einen Zoll- und Handelsverein hinaus in Richtung auf eine wirtschaftliche und dann auch politische Gemeinschaft.

Dafür spricht jedenfalls, daß die direkt gewählten Volksvertreter, die ihren nationalen Parlamenten weiterhin angehören können, allein schon aus Profilierungszwang versuchen dürften, ihre Befugnisse auszuweiten, und sei es auch nur de facto. Auch sucht eine derartige Volksvertretung unwillkürlich Felder der Selbstbestätigung -- und könnte so einen eigendynamischen Prozeß in Gang setzen, der nur schwer rückgängig zu machen wäre.

Andererseits: Im gewählten EG-Parlament wird die Front zwischen Befürwortern und Gegnern jeder Machtausweitung quer durch alle Fraktionen gehen, eine eindeutige Willensbildung scheint kaum möglich. Brüsseler Eurokraten vermuten, daß sich das künftige Parlament dauernd mit sich selbst beschäftigen, sich folglich selbst blockieren werde.

So muß es aber nicht sein. Das alte Parlament, das noch bis zum Sommer amtiert, bewies nämlich bereits, obschon nicht direkt gewählt, wieviel es erreichen kann, wenn es mit mehr Selbstvertrauen auftritt:

Mitte Dezember, als die Abgeordneten den Haushaltsplan der EG für 1979 behandelten, beschlossen sie, den Regionalfonds zu verdoppeln, auf 2,7 Milliarden Mark. Prompt focht der Ministerrat im Auftrag des mächtigen Europäischen Rates den Budgetbeschluß an.

Doch anders als früher blieb das Parlament diesmal stur und erklärte den von ihm modifizierten Haushalt auch gleich noch für endgültig verabschiedet.

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