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Katholische Kirche Was wurde eigentlich aus dem Missbrauchsaufklärer Pater Mertes?

Mit seinen Untersuchungen fing alles an: Vor fünf Jahren wurde Deutschland vom Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche überrollt. Wie denkt Jesuiten-Pater Klaus Mertes heute über seine Rolle, was hat sich verändert - in der Kirche, in seinem Leben?
Missbrauchsaufklärer vom Canisius-Kolleg: Jesuiten-Pater Klaus Mertes

Missbrauchsaufklärer vom Canisius-Kolleg: Jesuiten-Pater Klaus Mertes

Foto: dpa

Mächtige Säulen und eine gigantische Kuppel: Der Dom von Sankt Blasien ist ein wuchtiges Gotteshaus. Fast wirkt es, als sei er von unsichtbarer Hand in die putzige Modelleisenbahnlandschaft des Schwarzwalds geworfen worden. Drinnen dominiert unschuldig weißer Marmor, draußen plätschert der Fluss Alb gegen die Stille an.

Auf dem Gelände des nebenan liegenden Jesuiten-Kollegs führen aufgeregte Mädchen ihre neuesten Markenklamotten spazieren. Sie gestikulieren wichtig mit Handys in der Hand und reden über Jungs und Hausaufgaben. Die Teenager wohnen im Mädcheninternat, ihr Direktor ist Pater Klaus Mertes.

Der 60-jährige Jesuit kennt sich aus mit Macht, Unschuld und Stille. Elf Jahre lang war er Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin, wo er ab 2010 sexuellen Missbrauch publik machte und dadurch eine Welle von Enthüllungen auslöste. Mehr als 200 Fälle allein in Einrichtungen des Jesuitenordens wurden damals dokumentiert, am Canisius-Kolleg, aber auch in St. Blasien, am Aloisius-Kolleg in Bonn oder der St. Ansgar-Schule in Hamburg. (Eine Chronik des Missbrauchsskandals finden Sie hier)

Mertes erinnert sich: Anfangs hatten ihm zunächst drei ehemalige Schüler ihre Missbrauchsgeschichten anvertraut. Erschüttert informierte er in einem Brief Hunderte Absolventen derselben Jahrgänge und bat um Entschuldigung - woraufhin sich immer mehr Betroffene meldeten.

"Es stellte sich heraus, dass allein ein Täter bis zu hundert Kinder missbraucht hatte", sagt Mertes kopfschüttelnd. "Hier ging es also nicht um Einzelfälle, sondern um Verbrechen in Serie - und die Frage, wie das überhaupt möglich war."

"Das Schweigen", weiß Mertes heute, "war so systemisch wie der Missbrauch." Überhaupt bräuchte es "mindestens 25 verschiedene Wörter für Schweigen". Denn so viele Varianten des Nicht-Sagens gebe es - bei Tätern und Mitwissern ebenso wie auf der Seite der Opfer.

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Foto: Corbis

Auf das Schweigen folgte laut Mertes die aktive Vertuschung. "Die Fürsorge der Kirche galt den Tätern, sie kamen in Therapie, wurden versetzt. Vor lauter Loyalität wurden die Opfer komplett vergessen."

Ja, es gebe zweifellos ein Schweigen mit "spezifisch katholischem Geschmack", sagt Mertes. Die sakrosankte priesterliche Autorität und die Tabus in der Sexualmoral der Kirche hätten zu einer totalen Sprachlosigkeit geführt. Das elitäre Selbstverständnis begünstige zudem Vertuschung - nicht nur in der Kirche. "Je elitärer man sich wahrnimmt, desto schwerer ist es, die eigene hässliche, versagende Seite wahrzunehmen."

Mertes hat mit seiner Aufklärungsarbeit vieles erneuert - und ist dabei selbst zu einem Anderen geworden: "Ich habe in Abgründe geblickt. Das hat mich verändert, aber auch meine Beziehungen." Mertes war Zuhörer und Angeklagter in einer Person, denn er gehörte derselben Institution an wie die Täter. Die Opfer berichteten ihm von Verbrechen, die von Menschen begangen wurden, die er teilweise kannte und mochte. Langjährige Freundschaften zerbrachen, es gab viel Hass, von allen Seiten. "Ich bin seit vier Jahren im permanenten Shitstorm", fasst der Kollegsdirektor zusammen.

Wieso ist er der katholischen Kirche treu geblieben? "Ich wollte nie raus. Das wäre für mich auch wie Kneifen gewesen", sagt er. "Man kann das System nur von außen und von innen verändern."

Was hat sich verändert seit 2010?

Die schlechte Nachricht vorweg: Missbrauch, Verschwiegenheit und Vertuschung gibt es in der katholischen Kirche auch weiterhin. Für Schlagzeilen sorgte unlängst der Fall des päpstlichen Gesandten in der Dominikanischen Republik, Erzbischof Josef Wesolowski. Auf seinem Computer wurden 100.000 Dateien kinderpornografischen Inhalts gefunden. Papst Franziskus berief ihn ab und stellte ihn im Vatikan unter Hausarrest - ein weiterer Schlag für die Opfer, wollten sie doch den Tatverdächtigen der staatlichen Justiz zuführen.

Im spanischen Granada wurden Ende November gleich zehn Priester vom Dienst suspendiert, die einen Messdiener "auf besonders erniedrigende Weise" gemeinschaftlich missbraucht haben sollen. Hier zeigte sich immerhin der neue Ton im Umgang mit Missbrauch: Papst Franziskus selbst rief das heute 24-jährige mutmaßliche Opfer an und bat um Vergebung.

Auch Pater Mertes hat als Schulleiter noch mit Fällen sexueller Übergriffigkeit zu tun. Manchmal sind das Demütigungsriten unter den Schülern, manchmal ist es Missbrauch in der Familie. Es gibt aber auch den Lehrer, der im Unterricht schlüpfrige Reden schwingt. Oder den Kollegen, der mit Minderjährigen bei sich zu Hause Pier Paolo Pasolinis höchst umstrittenen, brutalen und pornografischen Film "Die 120 Tage von Sodom" anschaut - weil der angeblich zum kulturellen Kanon gehöre.

In den 2013 aktualisierten Leitlinien der katholischen Kirche zum Umgang mit Missbrauch heißt es:

Herausgehobene, intensive freundschaftliche Beziehungen zwischen Bezugspersonen und Minderjährigen sind zu unterlassen. (…) Filme, Computerspiele oder Druckmaterial mit pornographischen Inhalten sind in allen kirchlichen Kontexten verboten.

Doch wie in allen geschlossenen, hierarchischen Systemen ist das Nähe-Distanz-Verhältnis an Internaten nicht immer ausgewogen. St. Blasien ist klein, man kennt sich. Heute gebe es eine externe Missbrauchsbeauftragte, mit der er zusammenarbeite, erzählt Mertes. Die habe keine Loyalitätsprobleme mit mutmaßlichen Tätern und könne unvoreingenommen jeden Fall prüfen. "Die beste externe Unterstützung nützt aber nichts, wenn das Arbeitsrecht es teilweise unmöglich macht, übergriffige Lehrer zu entlassen", ärgert sich Mertes. "Das ist ein offenes Feld für Missbrauchstäter."

Es gibt zudem ein strukturelles Problem bei der Aufarbeitung: Zuständig für die Ermittlungsberichte aus den Bistümern ist die Glaubenskongregation in Rom. Die allerdings braucht teilweise bis zu sieben Jahre für die Analyse der Ergebnisse aus aller Welt - "für die Opfer eine unerträglich lange Zeit", sagt Mertes. Nur eine Handvoll Personen würde die Fälle behandeln, "und keiner weiß so richtig, wer die sind".

Zwar traf sich Papst Franziskus mehrfach mit Missbrauchsopfern und gründete eine Kinderschutzkommission, die laut Jesuiten-Pater Hans Zollner "Pionierarbeit leistet" (lesen Sie seine Einschätzung weiter unten im Text). Der Versuch der Deutschen Bischofskonferenz, im Jahr 2011 mit Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Hannover den kirchlichen Missbrauch in einem Bericht auf eine empirische Basis zu stellen, scheiterte aber kläglich.

Ein neues interdisziplinäres Forschungsprojekt unter der Leitung von Professor Harald Dreßing aus Mannheim ist auf drei Jahre angelegt; es gibt noch keinen Zwischenbericht. Erst Anfang 2014 warfen Uno-Experten dem Vatikan Verschleierung von Missbrauch vor und forderten unabhängige Untersuchungen sowie verbindliche Regeln im Kirchenrecht, die Kinder vor Missbrauch in katholischen Institutionen weltweit schützen sollen.

Klaus Mertes beobachtet in seiner Kirche unverändert "eine massive Front von Menschen, die sich weigern, die systemische Dimension des Missbrauchs ernst zu nehmen". Noch immer herrschten "mächtige negative Tabus, Sprech- und Denkverbote, die wir aufarbeiten müssen".

Seine Erfahrung hat dem Jesuiten-Pater gezeigt: "Am Ende entscheiden nicht Theorie und Programme, sondern die Praxis vor Ort." Es sei an den Führungspersonen, inhaltlich Profil zu zeigen, denn: "Wir müssen auf die Gewalt reagieren, die wir sehen, um jene zu entlarven, die wir nicht sehen."

Was wurde eigentlich aus...

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