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Flüchtlinge aus Afghanistan Bundesregierung bricht Integrationsversprechen

Die Kanzlerin hatte es selbst gesagt: Auch für Asylbewerber aus Afghanistan solle es schnell Integrationskurse geben. Eine Auskunft der Bundesregierung belegt nun, wie leer dieses Versprechen war.
Flüchtlinge in Integrationskurs

Flüchtlinge in Integrationskurs

Foto: Julian Stratenschulte/ picture alliance / dpa

Angela Merkel ist nicht für alarmistische Aussagen bekannt, im Gegenteil. Die Worte der Kanzlerin am 14. April waren allerdings mehr als deutlich. Gerade hatte sich die Koalitionsspitze geeinigt, ein Integrationsgesetz zu erarbeiten, auf einer Pressekonferenz stellte Merkel, eingerahmt von SPD-Chef Sigmar Gabriel und CSU-Chef Horst Seehofer die Eckpunkte vor. So sollten etwa Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive - konkret jene aus Syrien, dem Irak, Iran und Eritrea - besser gefördert werden, um in Arbeit und Ausbildung zu kommen.

Doch auch Flüchtlinge mit schlechterer Bleibeperspektive müssten bereits während ihres Asylverfahrens Orientierungskurse erhalten, sagte Merkel. In ihnen werden außer der deutschen Sprache auch grundlegende Kenntnisse über die deutsche Gesellschaft und ihre Werte vermittelt. Zwar sei einkalkuliert, dass ein Teil dieser Menschen Deutschland wieder verlassen werde, so die Kanzlerin. Aber die Bundesregierung wisse, "wenn wir Menschen erst einmal eineinhalb Jahre nichts anbieten, dass dann Schäden eintreten, die nie wieder gutzumachen sind". (Siehe Video der Pressekonferenz, ab Minute 4.15 )

Eine klare Gefahrenanalyse, die von Experten für Arbeitsmarkt und Integration uneingeschränkt geteilt wird. Gemessen daran ist die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen zwangsläufig beunruhigend: "Wann die Orientierungskurse als reguläres Instrument für Asylsuchende ohne eine gute Bleibeperspektive starten, ist in der Bundesregierung noch nicht entschieden", heißt es in dem Papier, das SPIEGEL ONLINE vorliegt.

Kurse nur für kleine Minderheit

Auf die ebenfalls gestellten Fragen nach der genauen Ausgestaltung und Finanzierung der Kurse geht die Bundesregierung nicht ein. Sie weist lediglich darauf hin, dass die Orientierungskurse in der zweiten Jahreshälfte 2016 erst einmal in einem Pilotprojekt erprobt werden sollen. Betrachtet man die Ausschreibung zu diesem Pilotprojekt, könnten bei voller Auslastung der Kurse in diesem Jahr maximal 2400 Menschen an einem solchen Orientierungskurs teilnehmen, hat die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Brigitte Pothmer, berechnet.

Bleibt es dabei, heißt das: Nur ein winziger Bruchteil der von Merkel angesprochenen Personengruppe wird in diesem Jahr einen Orientierungskurs besuchen können. Der weit überwiegende Teil würde jedoch leer ausgehen. Denn die Zahl der Asylbewerber, die aller Voraussicht nach in Deutschland bleiben dürfen, obwohl sie nicht aus Syrien, dem Irak, Iran oder Eritrea kommen, ist hoch.

Besonders betroffen davon sind Flüchtlinge aus Afghanistan. Sie gehören nicht zu den Asylbewerbern mit "guter Bleibeperspektive". Ob jemand diesen Status erhält, wird durch die sogenannte Gesamtschutzquote bestimmt. Diese gibt an, wie hoch der Anteil von Bewerbern aus einem Land ist, deren Anträge entweder anerkannt werden oder die bleiben dürfen, weil sie subsidiären Schutz erhalten oder die nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können, weil die Verhältnisse dort es nicht zulassen.

Liegt diese Gesamtschutzquote bei 50 Prozent oder mehr, haben Menschen aus diesem Land eine "gute Bleibeperspektive". Für Menschen aus Afghanistan liegt sie knapp darunter, bei 47,6 Prozent. Derzeit sind laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge  (Bamf) die Asylverfahren von 68.376 Menschen aus Afghanistan noch nicht entschieden. Rein statistisch werden von ihnen knapp 34.000 in Deutschland bleiben dürfen - aber mehr als 30.000 davon bis mindestens Ende des Jahres keine grundlegenden Sprachkenntnisse und Werte vermittelt bekommen.

"Schlechter Scherz"

Die Zahl könnte noch höher liegen. Denn in die Gesamtschutzquote fließen auch zahlreiche Fälle ein, die sich vor einer Entscheidung des Bamf erledigt haben - etwa weil bereits in einem anderen EU-Land ein Asylantrag gestellt wurde und nach dem Dublin-Abkommen dieses dafür zuständig ist. Berücksichtigt man nur die Verfahren, in denen tatsächlich auch entschieden wird, erhalten 73,9 Prozent der Afghanen Schutz in Deutschland. Und selbst wenn die Gesamtschutzquote bald über die 50-Prozent-Grenze stiege - Wirkung hätte dies frühestens 2017, da die Herkunftsländer mit guter Bleibeperspektive jeweils jährlich festgelegt werden .

Angesichts dessen spricht Grünen-Politikerin Pothmer von einem "schlechten Scherz". Die Bundesregierung dürfe sich "nicht mit einem Mini-Pilotprojekt aus der Affäre ziehen", sondern müsse ihre Ankündigung aus dem April umsetzen. Schließlich warteten Menschen aus Afghanistan im Schnitt 15 Monate auf eine Entscheidung des Bamf, so Pothmer.

Diese Zeit ist verloren, was die Integration betrifft - zudem führt die faktische Zweiklassengesellschaft in den Flüchtlingsunterkünften zu Spannungen zwischen Bewerbern aus Ländern mit guter Bleibeperspektive und den anderen, vor allem den vielen aus Afghanistan.

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