Politik

Einige Briten bereuen bereits Größte Brexit-Versprechen schon gebrochen

Ups! Boris Johnson im Wahlkampf.

Ups! Boris Johnson im Wahlkampf.

(Foto: REUTERS)

Mehr Kontrolle über Zuwanderung? Mehr Geld für das Gesundheitssystem? Ein schneller Ausstieg? Es dauert keine 24 Stunden, und schon nehmen prominente Brexit-Befürworter ihre größten Wahlversprechen zurück.

Ryan Williams sagt: "Ich hasse mich." Der 19-Jährige wünscht sich, er könnte die Zeit zurückdrehen und Nein zum Ausstieg aus der Europäischen Union sagen. Er habe gedacht, mit dem Brexit würde auch das Migrationsdrama für Großbritannien enden. So erzählte er es der britischen Webseite Metro, die Leute interviewt hat, die am Donnerstag für den Brexit gestimmt haben.

"Ich fühle mich belogen und betrogen", so Daniel Roche zu Metro. "Uns wurde gesagt, dass der Großteil des Geldes, der bisher an die EU ging, in unser Gesundheitssystem fließen würde." Wenn er könnte, würde auch er die Zeit zurückdrehen und für den Verbleib in der EU stimmen.

Wer sich bei Twitter umschaut, findet schnell den Hashtag "Bregret" und etliche solcher Kommentare. Viele Briten sind angesichts der heftigen Reaktionen der Aktienmärkte geschockt, andere zeigen sich überrascht, dass es neben ihnen so viele gab, die nicht wirklich an den Brexit glaubten und nur aus Protest mit Ja gestimmt haben. Zugleich haben etliche erkannt, was von den Versprechen der Gallionsfiguren des Brexit-Lagers zu halten ist. Bereits am Tag nach dem Votum schränkten Leute wie Ukip-Chef Nigel Farage oder der frühere Londoner Bürgermeister Boris Johnson Kernaussagen ihrer Kampagne massiv ein.

Von wegen "Take back control"

Das Thema Migration gilt als Schlüssel zum Erfolg des Brexit-Lagers. Der große Slogan der EU-Gegner: Großbritannien solle die Kontrolle über die Zuwanderung von Flüchtlingen und Arbeitssuchenden aus dem EU-Ausland zurückgewinnen. Doch es ist kaum acht Uhr am Tag nach der Abstimmung, als der Europaabgeordnete Daniel Hannan sich im Frühstücksprogramm von BBC News plötzlich ziemlich kleinlaut gibt. "Alles was wir wollen, ist ein bisschen Kontrolle darüber, ganz grob, wer zu uns ins Land kommt."

Die Brexit-Befürworter stecken in einem Dilemma. Sie wollen enge wirtschaftliche Verbindungen zur Europa aufrechterhalten und weiterhin die Vorzüge des EU-Binnenmarktes genießen. Als Vorbild legen die EU-Gegner gern das Norwegen-Modell vor. Das skandinavische Land ist kein EU-Mitglied, aber Teil des Binnenmarktes.

Doch für Norwegen gilt: Für den Zugang zum Markt muss das Land etliche Auflagen der EU befolgen – unter anderem muss es die Personenfreizügigkeit akzeptieren. Die EU-Kommission machte bereits deutlich, dass es an dieser Stelle keine Spielräume gibt. Und nach dem Ja der Briten zum Brexit ist Brüssel besonders bemüht, Härte zu zeigen, um Dominoeffekte zu verhindern.

Zudem kündigte eine Mehrheit der Abgeordneten des britischen Unterhauses bereits Anfang des Monats an, selbst bei einem Ja der Briten zum Brexit einem Ausstieg aus dem Binnenmarkt nicht zuzustimmen. Sie sehen sich trotz des Referendums dazu ermächtigt, weil das "Leave"-Lager nicht klar umrissen hat, wie es sich die künftigen wirtschaftlichen Verbindungen zur EU vorstellt.

350 Millionen was?

"Let's fund our NHS instead." Dieser Slogan prangte nicht nur auf Plakaten des "Leave"-Lagers, sondern auch auf einem riesigen roten Bus, der durch das Königreich tourte. Statt jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU zu überweisen, sollte das Geld dem National Health Service (NHS), dem britischen Gesundheitssystem, zu Gute kommen.

Ganz abgesehen davon, dass die Zahl 350 Millionen Pfund nie wirklich stimmte, ist es ausgerechnet der prominente Ukip-Chef Farage, der ebenfalls schon am Morgen nach dem Brexit-Votum, dieses Versprechen abräumt. In der Sendung "Good Morning Britain" bezeichnet er es als "Fehler", mit dieser Summe geworben zu haben. Er könne nicht garantieren, dass so viel Geld ins Gesundheitssystem fließe. Farage zieht sich darauf zurück, dass er nicht Teil der offiziellen "Leave" Kampagne war und behauptet: "Ich hätte dieses Versprechen nie gegeben." Doch diese Entschuldigung hat fragliche Glaubwürdigkeit. Farage hätte diese Summe schließlich auch vor dem Wahltag infrage stellen können. Er wartete aber lieber, bis sich die Mehrzahl der Briten auch wegen dieses Versprechens für den Austritt entschieden hatte.

Morgen, morgen, nur nicht …

Die Vorreiter der "Leave"-Bewegung kündigten wiederholt an, nach dem Referendum sofort Artikel 50 des EU-Vertrages zu aktivieren. Der regelt den Ausstieg eines Mitgliedsstaates aus der Union. Vorgesehen ist ein Zeitraum von zwei Jahren für die Trennung.

Als Premierminister David Cameron am Morgen nach der Abstimmung seinen Rücktritt im Oktober ankündigt und zugleich sagt, dass erst sein Nachfolger Artikel 50 in Kraft setzen werde, ertönt dennoch kein gewaltiger Aufschrei unter den Führern des Brexit-Lagers. Im Gegenteil. Camerons potenzieller Nachfolger Johnson sagt wenig später: "Es ist bedeutsam zu betonen, dass es jetzt keinen Grund zur Eile gibt." Er bezeichnet es als richtige Entscheidung, dass Cameron Artikel 50 nicht sofort aktiviert hat.

Von einer Neubewertung spricht Johnson bei dieser Gelegenheit nicht. Aber das hat Liam Fox, Abgeordneter des Unterhauses und ebenfalls Brexit-Befürworter, schon einige Stunden zuvor in klaren Worten getan. Fox sagte laut dem britischen "Mirror": "Vor diesem Referendum wurden viele Dinge gesagt, die wir vielleicht noch einmal überdenken sollten. Artikel 50 in Kraft treten zu lassen, gehört dazu."

Das Problem der Brexit-Jünger: Solange Premier Cameron an der Spitze der Regierung Großbritanniens steht und nicht sie, haben sie schlicht keinen Einfluss darauf, wann Artikel 50 aktiviert wird. Ironischerweise sind es jetzt ausgerechnet die verhassten Vertreter der EU, die auf einen schnellen Ausstieg Großbritanniens drängen. Mehr Souveränität sieht anders aus.

Quelle: ntv.de

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