Die Stimme erfüllt den ganzen Saal: „Bernd, spielst du mal ein bisschen?“ Orgelbauer Philipp Klais ruft seinem Angestellten Bernd Reinartz die Bitte aus sicherlich 60 Meter Entfernung zu. Dazwischen liegen das Parkett und die achtstufige Bühne eines der ambitioniertesten deutschen Bauprojekte dieses Jahrzehnts: der Elbphilharmonie. Der Bau läuft auf Hochtouren. Anfang nächsten Jahres soll die Konzerthalle eröffnet werden. Und trotzdem hat sich der renommierteste deutsche Orgelbauer ausbedungen, dass er ein halbes Jahr lang immer von 14 bis 24 Uhr privilegierten Zugang hat. Nicht gegen die Geräusche der Nacht soll die Orgel bestehen, sondern gegen den Umgebungskrach am Tage. Der Innenausbau der ehrwürdigen Halle kann in dieser Zeit nur eingeschränkt voranschreiten.
In einem Bad von Klang
Von PHILIPP KROHN20.06.2016 · In der Hamburger Elbphilharmonie entsteht eine der eindrucksvollsten Orgeln des Landes. Orgelbauer Philipp Klais ist für das harmonische Zusammenspiel von 4812 Pfeifen verantwortlich.
Es ist ein ergreifendes Gefühl, den Saal mit der geschwungenen Innenarchitektur zu betreten und die zarten Klänge der Klais-Orgel zu hören. Nach all den Debatten über Geldverschwendung und Politikversagen. In diesem Moment ist nur noch Klang. Auf den rund 2100 Sitzplätzen liegen Wolldecken und Plastikfolien. „Ich glaube, es ist gut, sie drauf zu haben. Sonst hätten wir die Orgel zu rund“, sagt Klais zu seinem Intonateur, der gerade damit beschäftigt ist, die frisch eingebauten Orgelpfeifen zu stimmen. „Wir machen hier die Arbeit des Dirigenten, die er vor jeder Aufführung macht – mit dem Unterschied, dass wir das nur einmal können“, sagt Reinartz. Während Klais darauf hört, ob das Instrument kratzt oder kotzt, spuckt oder zittert – so formulieren es seine Mitarbeiter tatsächlich –, tragen andere Helfer weitere Orgelpfeifen in den Saal.
Dass Klais die Orgel in der Elbphilharmonie einbaut, ist das Ergebnis eines Wettbewerbs vor acht Jahren. „Wir hatten das Glück, ihn zu gewinnen“, sagt der Familienunternehmer in aller Bescheidenheit. Hört man dem 48 Jahre alten Orgelbauer zu, könnte man glatt vergessen, dass sich Auftraggeber von Peking bis Caracas, von Iowa bis Kyoto, von Budapest bis Malmö um seine Dienste reißen. Anders als einige Wettbewerber meint Klais, der seine Bonner Manufaktur in vierter Generation führt, dass jeder Saal eine individuelle Orgel-Architektur verlange. „Wenn Leute glauben, es gebe eine ideale Orgel ähnlich einer Stradivari-Geige, dann respektiere ich das. Ich möchte einen anderen Weg gehen.“ Jeder Kultur, jeder Sprache, jeder Musiktradition müsse er mit einem individuellen Ansatz begegnen.
An kaum einem anderen Ort lässt sich die besondere Technik dieses Instruments so gut von außen beobachten wie an diesem. „Die Idee der Elbphilharmonie ist die Zugänglichkeit“, sagt Klais. „Deshalb kann die Orgel nicht über allem thronen, sondern die Menschen gehen direkt an den Pfeifen vorbei. Sie sind sichtbar und anfassbar.“ Die Hamburger Orgel müsse in der Lage sein, mit dem Raum zu verschmelzen. Anders als in so mancher Kirche komme es nicht auf ihre solistische Kompetenz an, sondern auf die Fähigkeit, im Ensemble mit Chören und Orchestern ihren begleitenden Platz einzunehmen. Ihre besondere Konzeption macht die Hamburger Orgel zu einem interessanten Studienobjekt.
Von der Empore gegenüber ist am schnellsten der Spieltisch auszumachen – die Tasten und Register, mit denen der Spieler das Instrument bedient. Die vier Manuale korrespondieren mit den vier Teilwerken des Instruments, die sich hier passenderweise auf vier Etagen verteilen. Im Keller steht ein riesiger Blasebalg, der von einer Turbine mit Energie versorgt wird. Denn die Orgel ist ein Blasinstrument mit externer Luftversorgung. „Das Besondere an der Orgel ist, dass sie das einzige klassische Instrument ist, bei dem der Spieler die Energie zum Erzeugen der Töne nicht selbst erzeugen muss“, erläutert Klais. Holz- und Blechbläser, Saiteninstrumente wie Gitarren und das Klavier, Trommeln – bei ihnen allen ist der Spieler neben dem Klang- auch Energielieferant. Nur eben nicht bei der Orgel.
Bevor der Spieler einen Ton erzeugt, muss er das Pfeifenregister wählen, aus dem der Ton erklingen soll. Drückt er dann eine Taste, hebt er eine Holzleiste, die über feine vertikale Holzwinkel mit dem Ventil verbunden ist. In der entsprechenden Pfeife öffnet sich das Ventil, und die Luft dringt durch Windkanäle hindurch in die Pfeife. Lässt der Spieler die Taste los, schließt sich das Ventil und verstummt der Ton. Durch diese Kombination aus Tastendruck und Registerwahl ist das Instrument ein Vorläufer des Computers. „Ein Ton ohne Register funktioniert nicht, ein Register ohne Ton auch nicht“, sagt Klais. „Somit ist der erste Orgelbauer Thesebius vor 2300 Jahren auch der Erfinder der Kreuzschaltung und somit des Computers gewesen. Nur indem man beide Signale von 0 auf 1 schaltet, hat man einen Ton.“
Die Pfeifen bestehen aus Holz oder einer Zinnlegierung mit einem Zinnanteil zwischen 40 und 82 Prozent. Das Metall hat den Vorteil, dass es schon bei 186 Grad schmilzt und deshalb problemlos in der Bonner Manufaktur gegossen werden kann. Sein Eichenholz bezieht Klais aus Süddeuschland, Fichte aus Österreich - jeweils aus Höhen zwischen 800 und 1200 Metern, jeweils bei abnehmendem Mond geschlagen, weil dann der Wassergehalt im Holz geringer ist. Aus beiden Materialien können sowohl Lingual- als auch Labialpfeifen gefertigt werden. Erstere setzt auf das Klangerzeugungsprinzip der Trompete: Der Luftstrom setzt eine Metallzunge in Schwingung; der Ton wird durch einen Becher verstärkt. Bei Lingualpfeifen dagegen wird der Wind wie bei einer Blockflöte durch eine enge Spalte gegen eine Kante getrieben. Je nach Ausprägung unterscheiden Orgelbauer zwischen Flöten, Prinzipalen, Streichern, Trompeten, Hörnern und Oboen.
Mit einer passenden Auswahl an Klangfarben kann Orgelbauer Klais den individuellen Charakter der Orgel bestimmen. „Hier haben wir ein orchestrales, sinfonisches Instrument. Das Ziel ist es, eine singende Orgel zu schaffen, die extrem viele Farben kombinieren kann, um die Menschen zu berühren. Dabei muss der Solist in den Hintergrund treten.“ Eine Herausforderung bestehe darin, mit dem Klang der Orgel der Hamburger Sprache gerecht zu werden, die sich durch nasale breite Vokale und den sprichwörtlichen „spitzen Stein“ auszeichne. „Das verlangt eigentlich viel Oberton, was aber wiederum der Aufgabe des Saals entgegenläuft, der nach einer dezenteren Orgel verlangt“, erklärt Klais. Und nebenbei darf das Instrument auch nicht zu perfekt klingen. „Das können Sie mit einer Computerstimme vergleichen. Sie artikuliert nicht. Nach einer Weile strengt es deshalb an zuzuhören. Das darf uns hier nicht passieren.“
Zwei Millionen Euro kostet das Instrument für die Hamburger Elbphilharmonie. Mit dem Etat des Stadtstaats für das Projekt hat dieses Geld nichts zu tun. Der Hamburger Unternehmer Peter Möhrle, früherer Betreiber der Max-Bahr-Baumärkte, hat es in guter Kaufmannstradition zur Verfügung gestellt. Dabei ist er selbst kein erklärter Orgelliebhaber. Ihm ging es darum, ein konkretes Vorhaben zu unterstützen. Wer das Innere des Instruments betritt, spürt hautnah diese schwer zu fassende Kombination aus Urgewalt und filigraner Feinarbeit. Die kleinste der 4812 Pfeifen besteht aus Zinn und ist elf Millimeter lang, die längste Holzpfeife erstreckt sich über 10 Meter. Über eine Wendeltreppe können die acht angestellten Orgelbauer, die neben Klais daran arbeiten, die einzelnen Etagen erreichen.
© Daniel Pilar Blick aus dem obersten Stockewerk der Elbphilharmonie in Hamburg
Eine weitere Besonderheit sind die letzten zwei Register der Hamburger Orgel. Sie schweben in einem runden, begehbaren Reflektor, der hoch über dem Konzertsaal von der Decke herabhängt. Sie erzeugen die sphärischeren Klänge, die mancher Komponist von den Spielern verlangt. Klais blickt auf die unvergleichliche Innenarchitektur des Konzertsaals und gerät ins Schwärmen über die Vorzüge seines Berufs: „Es ist ein unendliches Privileg, in so einem Raum arbeiten und darin etwas gestalten zu dürfen.“ Mit seiner Arbeit will er dem Saal etwas Magie hinzufügen. Während der Tausenden Führungen, die durch die Elbphilharmonie angeboten werden sollen, kann natürlich kein Orchester permanent anwesend sein. „Ein Student kann dann den Konzertsaal zwei bis drei Minuten lang vorführen und den Raum in ein Bad von Klang verwandeln“, schwärmt Klais. Mit den Prinzipien Transparenz und Zugänglichkeit des Bauprojekts konnte er sich von Beginn an identifizieren.
Quelle: F.A.Z.
Veröffentlicht: 20.06.2016 17:23 Uhr