Crowdsourcing: Die Massen in Bewegung bringen

Bereits Napoleon wusste es: Die Levée en masse kann Freunde wie Feinde beunruhigen. Wo es beim Crowdfunding darum geht, Community-Interaktion und Massendynamik für die Finanzierung von Projekten zu nutzen, hat Crowdsourcing zum Ziel, die eigentliche Arbeit im Projekt zu verteilen. Dabei werden große Aufgaben in viele kleine aufgeteilt, die dann per Webplattform auf Massen von Freiwilligen verteilt werden. (Wir berichteten vor zwei Jahren zum ersten Mal über Crowdsourcing und hatten damals auch schon ein paar bekannte Anwendungen, z.B. von Google, vorgestellt.) Das wohl bekannteste Beispiel für den Crowdsourcing-Ansatz ist die Wikipedia: Das Ergebnis der Arbeit hunderttausender Hobby-Editoren wurde zwar lange Zeit als amateurhaft und wenig verläßlich belächelt, hatte aber im Endeffekt so disruptive Folgen, dass die Lexikon-Urgesteine von Enzyklopedia Britannica bis Brockhaus mittlerweile aufgeben mussten. Welche für Verlage und Medienunternehmen interessanten Beispiele gibt es zur Anwendung von Crowdsourcing in Projekten?

Crowdsourcing als Customer Co-Creation

Ideal für große, bekannte Marken ist es, wenn man über Crowdsourcing-Kampagnen Marketing mit Community-Einbindung und Mitwirkung an neuen Produkten kombinieren kann. Ein außerordentlich erfolgreiches Beispiel dafür ist die Ritter Sport Blog-Schokolade: Hier wurde über Web und diverse Social Media-Plattformen dazu aufgerufen, Vorschläge für neue Schokoladensorten zu erstellen und über einen eigenen “Sorteneditor” auf die Landing-Page der Kampagne zu posten. “Blog-Schokolade” war in mehrerer Hinsicht erfolgreich: Neben der enormen Reichweite wurde aus den so kreierten Ideen tatsächlich die Sorte “Cookies & Cream” entwickelt und als Gewinnervorschlag realisiert. Aber auch der souveräne Umgang mit Parodie-Seiten (und -Sorten…) sorgte dafür, dass das Social-Media-Team sich hier einen nachhaltigen Ruf geschaffen hat.

 

ritter sport blog

Der Ritter Sport-Blog: Community-Einbindung und Produktentwicklung auf optimale Weise integriert. (Quelle/Copyright: http://www.ritter-sport.de)

 

Jenseits der Produktentwicklung: Arbeit unters Volk bringen

Dass die Macht der Massen für Wissenschaftler und Ingenieure sinnvolles Potenzial hat, ist bereits gängiges Prinzip, seit Aufgabenstellungen mit hohen Anforderungen an Rechenzeit über Peer-to-Peer-Netze über die halbe Welt verteilt und so dezentral berechnet wurden. Allerdings ging es bei diesem Ansatz noch hauptsächlich um die Verfügbarkeit von Server-Kapazitäten und weniger um die Einbindung von Individuen.

Genau das aber versucht das Projekt Foldit. Für den unbedarften Nutzer stellt sich Foldit zunächst als 3D-Spiel aus dem Genre der geometrischen Puzzles dar, allerdings mit dem etwas ungewöhnlichen Aufgabengebiet “Moleküle”. In einer anspruchsvollen 3D-Visualisierung werden naturgetreue Objekte aus der Molekularbiologie dargestellt und müssen nach den Regeln der realen Molekulardynamik bewegt, gedreht und gefaltet werden, um das Puzzle zu lösen.

Der Clou dabei: Ist man einmal über die Anfänger-Levels hinweg, haben die Puzzles zunehmend Aufgaben aus realen Wissenschaftsprojekten zum Inhalt. Neben der Arbeit von hochkarätigen Wissenschaftlern stellt man also die schiere Masse von Spielern, die durch schlichtes experimentelles Durchprobieren zu freiwilligen Arbeitern für die medizinische Forschung werden. Mit Erfolg: Bereits zu Beginn des Foldit-Projektes machte die versammelte Gamer-Community durch die so realisierte Entschlüsselung eines HIV-Enzyms Furore, an der sich die daran arbeitenden Wissenschaftler jahrelang vergeblich versucht hatten.

 

Foldit

Moleküle falten im Dienste der Wissenschaft: Gamification & Crowdsourcing kombiniert von Foldit (Quelle/Copyright: https://fold.it)

 

Auf leider eher tragische Weise bekannt geworden ist die Tomnod-Community, die Freiwillige zum systematischen Durchsuchen und Taggen von Satellitenbildern versammelt. Als im März der weltweit bekannte Fall der verschollenen Malaysia Airlines-Maschine durch die Medien ging, suchte hier die Community auf live synchronisierten Aufnahmen nach Ölspuren und anderen Hinweisen. Für die schnelle Analyse in Katastrophen-Fällen hat der Crowdsourcing-Ansatz unübersehbare Vorteile – auf kaum einem anderen Weg dürften massenhaft spezialisierte Ressourcen schneller abgerufen werden können.

 

Communities einbinden und gemeinsam kreativ werden

Aber auch beim gemeinsamen Arbeiten an Kreativ-Projekten kann die Macht der Massen helfen: Die isländische Band Sigur Ros, seit langer Zeit schon Meister in der Nutzung von Social Media-Kanälen, hat sich für ihr jüngstes Album eine ganz besondere Kampagne einfallen lassen. Zur ersten Single “Stormur” aus ihrem jüngsten Album forderte die Band dazu auf, Videos und Bilder auf Instagram und Vine zu veröffentlichen und mit #stormur zu taggen. Auf der Landing-Page your #stormur wurde aus diesem Material das Video zur Single zusammengestellt. Die Visualisierung wird bei jedem Aufruf in Echtzeit über die Instagram-API neu generiert und enthält jedes Mal eine andere Kombination von Bild- und Video-Material. Statt einem statischen Vermarktungs-Filmchen wird das Single-Video damit quasi zur sozialen Skulptur, bei der jeder Fan mitmachen und mit etwas Glück sein eigenes Video als Teil des Ergebnisses bewundern kann – Community-Involvement auf die beste denkbar Weise.

 

stormur

your #stormur: Jeder Fan bekommt ein individuelles Video aus Crowd-Beiträgen zu sehen. (Quelle/Copyright: http://www.sigur-ros.co.uk/)

 

Potenziale für Verlage, Buch- und eBook-Projekte

Nahe liegend sind nach den hier gezeigten Best-Practise-Beispielen folgende Anwendungen für Crowdsourcing-Mechanismen:

  • Reine Marketing-Kampagne mit Schwerpunkt auf viralen Effekten
  • Marketing mit zusätzlicher Produktentwicklungs-/Beteiligungs-Komponente
  • Einbindung der Community zur Ideenentwicklung und für die Integration von kreativen Beiträgen

Für Verlagsprojekte liegt es nahe, Crowdsourcing zunächst für die Vermarktung zu nutzen. Erstellung von Content oder echte Co-Creation von Produkten wird sicherlich stark von Redaktionen und Produktentwicklern kuratiert werden müssen, um zu vermarktungsfähigen Resultaten zu führen. Dennoch ist Crowdsourcing alleine durch den Effekt der Massendynamik ein attraktiver Weg zur Ansprache von Zielgruppen – wenn man sie gut genug kennt, um ihre Bedürfnisse zu treffen. Denn nichts ist peinlicher als eine Mitmach-Aktion, bei der niemand mitmacht.

 

 

Veröffentlicht von

www.dpc-consulting.de

XML- und Digital-Publishing-Professional mit Leib & Seele, seit Berufseinstieg in verschiedensten Projekten rund um Content-Management und Datenbank-basiertes Publizieren unterwegs. Seit 2012 selbständig als Berater und Trainer für digitales Publizieren.