KEINE WILLKOMMENSKULTUR: DIE FLÜCHTLINGSFRAGE IN TSCHECHIEN

Werner Böhler konstatiert in Tschechien eine fast hysterische Angst vor Überfremdung und vermisst eine differenzierte Debatte.

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Werner Böhler

Keine Willkommenskultur: Die Flüchtlingsfrage in Tschechien

Bei kaum einem Thema sind sich die Bürger Tschechiens, Politiker und Parteien so einig wie bei der Ablehnung von Flüchtlingen. Nach der Umfrage der Agentur Focus Anfang September sehen 87% der Bürger in der Immigrationswelle ein großes Problem für Tschechien, 78% sind für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen, 94% wollen die Flüchtlinge zurückschicken und nur 61% befürworten Hilfestellung in den Herkunftsländern, während 32% jede Hilfe ablehnen. „Niemand hat sie eingeladen“ vernimmt man von Staatspräsident Milos Zeman. Sein Vorgänger Vaclav Klaus verlangt ein Referendum, falls internationale Verpflichtungen oder Rechtsnormen geändert werden sollten. 70.000 Tschechen unterzeichneten in den letzten drei Wochen seine Petition.

Durch die EU-Kommission verordnete Pflichtquoten stoßen auf breiter Front auf heftigen Widerstand. Die zuvor wegen der Sanktionen gegen die russische Okkupation der Krim gespaltene Gruppe der vier Visegrad Staaten war in der strikten Ablehnung einer verpflichtenden Quotenregelung plötzlich wieder geeint. „Das ist für uns inakzeptabel“ stellt der tschechische Innenminister Milan Chovanec fest und wird darin von der Führungsspitze der sozialdemokratischen CSSD und der Bewegung ANO ebenso unterstützt wie von der rechtskonservativen Bürgerpartei ODS, der rechtsextremistischen Usvit und den Kommunisten. Zwar lehnen die beiden EVP Mitgliedsparteien TOP 09 und KDU-CSL Zwangsquoten ebenso ab, mahnen aber die christlich-humanistische Verantwortung und Solidarität an. Der Vorsitzende der Christdemokraten wandte sich in einem Brief an die Mitglieder; die Homepage der Partei gibt differenziert Auskunft über die Flüchtlingsfrage. 3000 Wissenschaftler unterzeichneten einen Appell „Gegen die Angst und Gleichgültigkeit“, der die xenophoben und extremistischen Tendenzen in der tschechischen Gesellschaft kritisiert, die Öffentlichkeit und die Medien zu kritischem Denken und die Politik zum Handeln auffordert. Auf dem Wenzelsplatz demonstrierten etwa 250 Menschen in diesem Sinne. Am Prager Hauptbahnhof fanden sich einige junge Freiwillige ein, die ankommenden Flüchtlingen helfen wollten.

Aber es kommen –wenn überhaupt- nur vereinzelt Flüchtlinge an! Als ehemaliges Ostblockland kann die tschechische Gesellschaft als weitgehend homogen bezeichnet werden. Lediglich 4% des 10 Millionen Volkes sind Ausländer, dreiviertel davon kommen aus der Slowakei, der Ukraine und Deutschland. Nur die in kommunistischen Zeiten zugewanderten Vietnamesen stellen mit etwa 0,6% eine nennenswerte Minderheit dar, die als Betreiber kleiner Lebensmittel- und Gemüseläden akzeptiert ist. Die Roma als einzige ethnische Minderheit, etwa 250.000 sollen in Tschechen leben, fühlen sich sozial diskriminiert und bildungsmäßig benachteiligt.

Trotzdem ist in der Bevölkerung eine fast hysterische Angst vor Überfremdung weit verbreitet, die leider in den Medien und von vielen Politikern des Landes zusätzlich geschürt wird. Es leben nur 10.000 Muslime in Tschechien. Es gibt jedoch eine Bürgerinitiative „Wir wollen den Islam in Tschechien nicht“, die 80.000 Unterstützer zählt. Staatspräsident Zeman wird nicht müde darin, die Zuwanderung von Muslimen als unerwünscht zu erklären, die er für nicht integrierbar hält. Sein Vorgänger im Amt lehnt in seiner Petition die künstliche Mischung von Nationen, Kulturen und verschiedenen Religionen als Bedrohung ab.

Eine mögliche Erklärung für die verbreiteten Ängste in der Bevölkerung bietet Außenminister Lubomir Zaoralek an: „Wir hinter dem Eisernen Vorhang waren 40 Jahre nicht daran gewöhnt, mit Ausländern zusammenzuleben. Daran gewöhnen sich die Tschechen heute nur sehr schwer.“ Allerdings macht es sich die Politik damit sehr einfach! Nur vereinzelt sind von christdemokratisch geprägten Politikern wie Karel Schwarzenberg oder Pavel Belobradek Stimmen zu vernehmen, die differenzieren, die christlich-humanistische Verantwortung hervorheben und zu solidarischem Handeln mit Europa auffordern. Ansonsten ist praktisch einhellig die Position zu vernehmen: Keine (Zwangs)Quoten, keine Muslime, wenn Flüchtlinge, dann nur eine begrenzte Zahl auf freiwilliger Basis und Christen. Die Verantwortung wird der EU (kein Konzept) und insbesondere Deutschland angelastet (attraktives Sozialsystem, Öffnung der Grenzen), aber auch Österreich, weniger Frankreich. Medienkommentare bemühen die „Diktatur der Willkommenskultur“ und die „Deutsche Diktatur des Guten“ und die Boulevard-Zeitung Blesk sieht Tschechien mit Verweis auf die Jahreszahlen 1938 und 1968 erneut einem diktatorischen Zwang von außen, diesmal aus Brüssel, ausgesetzt. Immerhin gibt es auch andere Stimmen wie bspw. novinky.cz, die feststellt: „Immer wenn es für die Tschechen eng wird, kommt der alte Instinkt, dass immer die anderen Schuld sind.“

Es gibt wohl selbst in der Bildungsschicht im Land eine Mehrheit, die Gefahren in der großen Zahl der Flüchtlinge nicht nur für Tschechien, sondern auch für Europa insgesamt sieht. Diese beansprucht für sich die Sachlage rational zu bewerten und sieht in den bisherigen Maßnahmen aus Brüssel keine tragfähige Lösung. Sie befürworten die Verbesserung der Flüchtlingscamps in der Türkei, dem Libanon und Jordanien und sehen nur in einem einheitlichen Asylrecht, der strikten Kontrolle der Außengrenzen und einer konsequenten Rückführungspolitik eine Lösung als Antwort auf diese kaum mehr zu bewältigenden Herausforderungen für die EU. Die akute Situation der Flüchtlinge löst das nicht.

Wo aber bleibt die Politik mit einer differenzierten Bewertung, die auch der Bevölkerung Orientierung gibt? Politische Bildung ist in Tschechien, wie in den meisten Ost-Mitteleuropäischen Ländern bislang kaum vorhanden. Folglich gibt es keine seriöse und differenzierende Auseinandersetzung mit dem Thema Flüchtlinge, Asyl oder einen Dialog über andere Religionen, den Islam. Die Angst in der Bevölkerung hat ihren Ursprung nicht zuletzt in dieser Unkenntnis und dem mangelnden Willen, sich mit solchen Herausforderungen zu beschäftigen und im europäischen Kontext nach zielführenden Lösungen zu suchen.

Beliebt ist bei den Politikern auch das Argument gegenüber der EU und der Quotenregelung, dass die Menschen nicht nach Tschechien kommen oder dort verbleiben wollen. Bei offenen Schengen-Grenzen könne man diese nicht zwangsweise im Land halten. Dafür gibt es Zustimmung aus der Bevölkerung. Auch hier sei der Hinweis auf das ablehnende Klima erlaubt, zu dem die Politiker mit ihren Äußerungen und ihrem Handeln nachhaltig beigetragen haben.

Minister Zaoralek fordert Respekt von der EU gegenüber den mitteleuropäischen Ländern und den Ängsten in der tschechischen Bevölkerung. Diesen verdient jedes Land in der EU, unabhängig von dessen Größe oder Bevölkerungszahl. Das setzt jedoch auf der anderen Seite verantwortungsvolles politisches Handeln und die Überzeugung voraus, in vollem Umfang zu dem gemeinsamen Europa zu gehören.

Der tschechische Staatsgründer Tomas Masaryk setzte sich in seiner Zeit leidenschaftlich für die neue Demokratie und für das friedliche Nebeneinander von Tschechen, Deutschen und Juden ein. Er warb für Toleranz zwischen verschiedenen Volksgruppen und prägte in seiner Rede vom 22. Dezember 1918 das geflügelte Wort von der „Gerechtigkeit als der Mathematik des Humanismus“. Vielleicht würde es Tschechien und Europa gut tun, wenn sich möglichst viele Politiker auf diese Orientierung gebenden Worte zurückbesinnen würden. 

Dr. Werner Böhler (1953) studierte Wirtschaftswissenschaft an der Universität in Mannheim. Seit 1984 ist er bei der Konrad-Adenauer-Stiftung beschäftigt. Auslandseinsätze übernahm er in Nicaragua, Argentinien, Südafrika und jetzt in Tschechien und der Slowakei.

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