Die Kraft der Melodie

MUSIK Das dreitägige Fest „Laulupidu“ in Tallinn ist weit mehr als nur ein Kulturevent: Für die Esten ist es vor allem identitätsstiftend

AUS TALLINN ALVA GEHRMANN

Ihr Herz pocht schnell, sie atmet tief durch. Fast 7.500 Mädchen und Jungen stehen vor ihr auf der muschelförmigen Treppenbühne am Rande Tallinns. Hinter ihr haben sich über 70.000 Zuschauer versammelt. Kaie Tanner ist Dirigentin des Sängerfestes, das alle fünf Jahre in Estland stattfindet. Alle Augen sind nun auf die 39-Jährige gerichtet. In wenigen Momenten werden ihre Kinder die einstudierten Lieder singen.

Das dreitägige Fest „Laulupidu“, an dem im Juli insgesamt 33.000 Sänger und 10.000 Tänzer teilnehmen, ist weit mehr als nur eine riesige Kulturveranstaltung: Für die Esten ist es ein identitätsstiftendes Wochenende. Scherzhaft sagen sie, dass sie schon singen, bevor sie überhaupt sprechen können. Neben Hunderten Schulchören gibt es auch in vielen Firmen und Organisationen wie der estnischen Bank oder der Feuerwehr eigene Gesangsgruppen.

Weg in die Unabhängigkeit

Die Leidenschaft ebnete dem Volk mit seinen heute rund 1,3 Millionen Einwohnern einst den Weg in die Unabhängigkeit. Kaie Tanner war 13 Jahre alt, als sich die Bürger im Sommer 1988 genau auf dieser Sängerwiese trafen, um gemeinsam damals verbotene Lieder anzustimmen. Estland war zu der Zeit noch eine kleine Sowjetrepublik. Die Esten hätten dafür ins Gefängnis kommen oder früher sogar in den Gulag geschickt werden können. Doch nun, kurz vor der Wende, trauten sich viele immer wieder singend zu demonstrieren: An einem Tag kamen spontan 300.000 Menschen zusammen. Tanner stand mit ihrer Familie mittendrin. Die friedlichen Proteste, die sich ein Jahr später über das gesamte Baltikum erstreckten, gingen als Singende Revolution in die Geschichte ein.

„Das gemeinsame Singen ist so ein mächtiges Gefühl“, sagt Tanner. „Für uns ist dieses Fest mehr als nur ein großer Chor. Es hat etwas Magisches.“ Kurz vor dem Laulupidu begleiten wir sie bei den letzten Proben mit einigen der Kinderchöre. In den vergangenen 25 Jahren ist viel passiert. Die ehemalige Sowjetrepublik hat sich nicht nur ihre Unabhängigkeit erkämpft, die Esten sind seit 2004 Mitglied der Nato und Europäischen Union. Das Land gilt als EU-Musterstaat und feiert sich selbst als e-Estland, weil die meisten Dinge online stattfinden – inklusive der Kabinettssitzungen und Parlamentswahlen. Traditionell fühlen sich die Esten eher dem Westen verbunden, dennoch ist der Osten nicht nur geografisch nah: Bis heute zählen ein Viertel der Bevölkerung zu den russischstämmigen Esten. Die Angst vor der Unterdrückung durch Russland sitzt tief, besonders seit der Krim-Krise. Das Motto des diesjährigen Laulupidu klingt daher so doppeldeutig wie einst die Protestsongs: „Touched by time – The time to touch“.

Wir fahren an diesem Morgen mit dem Auto in den Nordosten nach Jõhvi und später Narva. Hier, nahe der russischen Grenze, sprechen die Bewohner so gut wie kein Estnisch. Es ist, als würde man in ein anderes Land reisen. In der Konzerthalle von Jõhvi tummeln sich rund 300 Kinder von verschiedenen Schulchören der Umgebung. Unter ihnen einige Mädchen aus der Kleinstadt Sillamäe. Katja und Leana sind beide neun Jahre alt. Wenn man sie fragt, ob sie sich eher als Russinnen oder als Estinnen fühlen, sagen sie sofort „Russinnen“. Eine ihre Mitschülerinnen votiert jedoch auch für Estin. Die Kinder tragen gelbe T-Shirts mit dem Stadtwappen. Im 19. Jahrhundert war Sillamäe ein schicker Badeort für die russische Oberschicht, auch Iwan Pawlow hatte dort eine eigene Datsche. Zu Sowjetzeiten wurde in Sillamäe dann eine Urananreicherungsanlage für Atomkraftwerke und Nuklearwaffen gebaut. Die Stadt war für Ausländer geschlossen, auf Karten existierte sie nicht. Sillamäe ist nur ein Beispiel für die bewegte Geschichte Estlands. Katja und Leana kennen sie nur aus Erzählungen. Sie finden ihre Heimatstadt schön, weil sie am Meer liegt, es dort so ruhig ist und es kaum Verbrechen gibt. Wie viele andere Mädchen in Europa mögen sie die Musik von Kate Perry und träumen davon, eines Tages Model, Balletttänzerin oder Ärztin zu werden.

Zwei Jahren haben sich die Kinder auf die fünf Songs vorbereitet, alleine mit ihren Lehrern geprobt, aber auch mit Kaie Tanner und deren Kollegen. Die Lieder werden nur auf Estnisch gesungen, für die Sillamäe-Mädchen performen sie mit leichtem Akzent. Katja mag am liebsten „Lambad on kadunud“, in dem Stück geht es um verschwundene Lämmer, die gesucht werden. Andere Melodien sind ernster, in „Lauldes“ („Singend“) heißt es etwa: „Singend wird jeder Este ein Riese / Singend sind wir freier als frei“. Im Vorfeld des Laulupidu sagen einige Esten, auf die aktuelle Russland-Krise angesprochen, ironisch, dass sie schon mal für die nächste Singende Revolution üben. Doch Tanner ist sich sicher: „Wer zusammen singt, bekriegt sich nicht. Die Kinder aus Sillamäe und der ganzen Region würden nie gegen uns kämpfen.“

Die sonst so resolute Kaie Tanner gesteht, dass sie meist schon beim Eröffnungssong am Samstag weint. Vielen ihrer Landsleute geht es ähnlich, sobald die Melodie von „Koit“ („Dämmerung“) erklingt, stehen ihnen die Tränen in den Augen. Anfang Juli findet das Laulupidu zum 26. Mal statt. Seit den Anfängen im Jahr 1869 wird bei dieser Feier das nationale Erwachen des Volkes zelebriert. Denn auch bei der Begründung war Estland fremdbestimmt; 1991 jedoch erlangten sie ihre Unabhängigkeit.

Eine aktuelle Studie hat herausgefunden, dass jeder zweite Este im Laufe seines Lebens mindestens einmal auf dieser muschelförmigen Sängerbühne steht oder als Tänzer teilnimmt. Kein Wunder also, dass die meisten Besucher so einen starken Bezug zum Laulupidu haben. Sie kennen entweder jemanden, der gerade performt oder können auswendig mitsingen. Bewusst mischen die Organisatoren in diesem Jahr melancholische Klassiker mit modernen, leichten Stücken. 17 neue Songs wurden nur für dieses Festival geschrieben. Jetzt endlich, am Sonntagnachmittag um 14.40 Uhr bei strahlendem Sonnenschein, beginnt auch Kaie Tanners Einsatz. Das Laulupidu wird live im Fernsehen übertragen, der Präsident und der Premierminister sitzen mit ihren Familien im Publikum. Da kann man schon mal nervös sein. Sie dirigiert den fröhlichen Song „On meie keskei suvi“, „Sommer ist in unserer Mitte“. Die Kinder sind nun voll auf die kleine Frau fokussiert, der Gesang ist tadellos. Schon nach drei Minuten ist alles vorbei. Tausende Mädchen und Jungen jubeln und winken Tanner zu. Mittendrin stehen die Mädchen aus Sillamäe.

Auf der Sängerwiese und Bühne sieht man an diesem Wochenende unzählige estnische Flaggen. Massenaufläufe, bei denen Menschen patriotische Lieder singen und Fahne schwenken, wecken bei vielen Deutschen – trotz der nun von einigen gezeigten Fußball-Weltmeister-Euphorie – eher Unbehagen. Doch Estland hat eine andere Geschichte. Jahrhundertelang waren sie fremdbestimmt. „Außerdem sind wir so ein kleines Volk, wir könnten niemanden erobern oder überfallen“, sagt Kaie Tanner. Zum vierten Mal war sie nun als Dirigentin dabei. Es ist schon schwer, eine Schulklasse im Zaum zu halten, bei 7.500 Kinder wird das umso anstrengender. „Meine Kinder“ nennt Tanner sie stolz. „Natürlich kenne ich nicht jedes Kind persönlich, trotzdem habe ich sehr viele Gesichter von den Proben wiedererkannt.“

Zeremonie für freie Nation

Ihr Kollege Aarne Saluveer, der zwei andere Songs der Kinderchöre dirigiert und der unter anderem schon mit Michael Jackson sowie Arvo Pärt aufgetreten ist, findet, dass dieses Festival das „echte Treffen des Parlaments“ sei. „Das Laulupidu ist eine emotionale Therapie, ein rituelles Gefühl und eine offene Zeremonie für eine freie Nation“, sagt der 54-Jährige. „Die Unabhängigkeit ist uns Esten am wichtigsten.“

Wenige Stunden später beim großen Finale stehen bis zu 22.000 Sänger im Bühnenbereich, sie verschwimmen mit dem Publikum. Gemeinsam singen sie die inoffizielle Hymne „Mu isamaa on minu arm“, „Mein Vaterland ist meine Liebe“. Im Alltag gelten die Esten als Individualisten, in diesem Moment verschmelzen fast 100.000 Menschen zu einer Melodiewelle.