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Protestdorf im Wendland: Die dritte Republik

Foto: Anne Jäger/Rudi Reichenbach

Freies Wendland Die Hippie-Republik

33 Tage Utopia: Im Mai 1980 errichteten Atomkraftgegner im niedersächsischen Lüchow-Dannenberg ein Protestdorf mitten im Wald. Die sich selbst organisierende Republik Freies Wendland wurde zum beliebten Ziel von Butterfahrten - bis die Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes kamen.

Er war lindgrün und gültig, "solange sein Besitzer noch lachen kann": der Pass der Freien Republik Wendland. Ausgehändigt bekam ihn, wer am Schlagbaum im Wald des niedersächsischen Trebel hielt und ausharrte, bis die zwei Hippies im Wartehäuschen einen Einreisestempel auf das Papier drückten und er für zehn DM eingelassen wurde in eine Utopie.

Marianne Fritzen aus Kolborn im Wendland ist heute 91 Jahre alt. Wenn sie in ihren Kalender des Jahres 1980 schaut, steht dort für den 5. Mai in ihrer Handschrift: "nachmittags Fahrt zu 1004, es wird eifrig gebaut. Richtfest für den großen Mittelbau."

Sie erinnert sich, wie sie genau zwei Tage, nachdem Atomkraftgegner am 3. Mai 1980 eine Waldlichtung bei Gorleben besetzt hatten, am Schlagbaum der Wendenrepublik ankam und staunte. Rund 5000 Atomkraftgegner aus der Bundesrepublik hatten mitten im Wald ein Protestdorf gezimmert, die Republik Freies Wendland. Eigentlich wollte man an der "Tiefbohrstelle 1004" durch Bohrungen herausfinden, ob der Salzstock nahe Gorleben für ein Atommüllendlager geeignet sei. Nun wurde überall gehandwerkt. Fritzen: "Da war so viel Fantasie."

Friseur für Aktivisten

Es gab ein Meditationshaus, ein Freundschaftshaus mit täglichem Sprecherrat, eine eigene Blaskapelle, einen Friseur für die Aktivisten, es gab Solarduschen mit lauwarmem Wasser und sogar das "Radio Freies Wendland" sendete bald auf 101 Megahertz. Marianne Fritzen war Hausfrau und siebenfache Mutter, 55 Jahre alt, täglich pendelte sie die rund elf Kilometer aus Kolborn in die Freie Republik und klönte mit den Protestgruppen aus Freiburg, Heidelberg oder Berlin. Sie schlief nicht dort, denn ihr Mann, ein Gymnasiallehrer, war erblindet und brauchte ihre Hilfe. War seine Marianne im Wald, schob er zu Hause Telefondienst.

Nach anfänglichem Zögern schauten Bauern aus dem Wendland mit ihren Frauen vorbei und brachten Brot, Kuchen, Kartoffeln und Gemüse für die Langhaarigen. "Es war ein wenig wie in der Bibel, sorget euch nicht um den nächsten Tag", erinnert sich Lilo Wollny aus Vietze. Auch sie half damals in der Küche und kochte Suppe für alle. "1004" habe ihr Leben verändert, anschließend habe sie nie wieder Angst vor Nähe oder anderen Menschen gehabt.

Dritte Republik

Mitten im Wald gab es plötzlich ein anderes Leben und Deutschland hatte für 33 Tage eine dritte Republik. Das Wetter war in diesen Maitagen des Jahres 1980 heiß, die Nächte kalt, vier Wochen regnete es nicht. Die Platzbesetzer bauten unentwegt weiter an den Hütten aus Brandholz, es gab Straßen und Blumengärten. Manche im Landkreis Lüchow-Dannenberg sprechen rückblickend von "Woodstock-Gefühl", "Ferienlageratmosphäre" und "Lebenslust". Marianne Fritzen erfuhr später von einem CDU-Bürgermeister aus Lüchow, dass er eigentlich gerne dabei gewesen wäre - dem ehemaligen Militär imponierte die Organisation.

Mittlerweile waren im Protestdorf Rechtsanwälte, Lehrer, Künstler aus Berlin, Journalisten und Fotografen versammelt. Sie alle träumten nicht nur von einem Ausstieg aus der Atomkraft, sondern von einer anderen Gemeinschaft.

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Protestdorf im Wendland: Die dritte Republik

Foto: Anne Jäger/Rudi Reichenbach

In den Büros des Antagonisten, der CDU, hingegen wurde im Mai 1980 gezählt, gegen wie viele Gesetze das Hüttendorf verstieß: das Bau-, das Seuchen-, das Forst-, das Wald-, das Presse- und sogar das Meldegesetz sah man durch die freie Wendenrepublik tangiert. Auch eine Hütte mit dem verdächtigen Namen "Fritz Teufel-Haus" war ein Dorn im Auge der Konservativen. CDU-Mann Egbert Möcklinghoff, damals niedersächsischer Innenminister, erklärte: "Am Tag X wird der Platz geräumt".

Verfassungsschutz mit Arafat-Tuch

In der Bevölkerung wuchs die Sympathie. Aus der ganzen Bundesrepublik gab es Butterfahrten ins Wendland. Einige wollten nur gucken, andere hatten gleich ihr Werkzeug eingepackt, und Rentner wollten mit Hippies diskutieren. Marianne Fritzen erinnert sich an merkwürdige Besucher. Einer sei mit Arafat-Tuch herumgelaufen und habe pausenlos fotografiert: "Wir enttarnten ihn als Mann vom Verfassungsschutz". Gerhard Schröder, damals Vorsitzender der Jusos, tauchte auch im Wald auf und plauderte mit den Protestlern.

Auf den Sprechplätzen und in den Hütten der Wendenrepublik wurde täglich die Gewaltfrage diskutiert. Die meisten im "Plenum" waren für gewaltlosen Widerstand. Doch die "Bild"-Zeitung heizte ein: Sie mutmaßte, dass in den Hütten heißes Öl und Waffen bereitgehalten würden, um sich gegen eine Räumung zu wehren.

Nach 33 Tagen wurde geräumt. Ausnahmsweise verbrachte Marianne Fritzen die Nacht davor draußen im Protestdorf. Sie erinnert sich, wie sie auf dem Stroh in ihrer Hütte lag, keiner tat in dieser Nacht ein Auge zu: "Da war solche Anspannung." Täglich hatten sie von Informanten und Insidern gehört, wie der Polizeikordon im Landkreis vorrückte. Um halb sechs morgens am 4. Juni 1980 hatten Polizisten mit geschwärzten Gesichtern und der Bundesgrenzschutz das Hüttendorf umzingelt.

Aus einem Lautsprecher dröhnte es: "Wir geben Ihnen zehn Minuten Zeit, den Platz zu räumen." Die Atomkraftgegner saßen im Morgengrauen eng in Reihen und sangen: "Hey Cops, schmeißt die Knüppel weg." Einige trugen gelbe Regennerze - gegen Wasserwerfer. Marianne Fritzen erinnert sich: "Es wurde noch während der Aktion gezimmert und die Räumung von unserem Sender übertragen. Komisch war: Noch während der Räumung reisten Besucher in die Republik ein."

Babywindeln gegen Reizgas

Über ihrem Parka trug sie eine Babywindel um den Hals. Die war mit Zitronenwasser getränkt, das helfe gut gegen Reizgas, erzählt die 91-Jährige. 15 Hubschrauber kreisten plötzlich über ihren Köpfen. Sie flogen zehn Meter über dem Boden, sie wirbelten so viel Sand auf, dass die Atomkraftgegner kaum etwas sehen konnten. Es sei wie im Krieg. Die heutige Grünen-Europaabgeordnete Rebecca Harms habe am Sender auf dem Turm gesessen und die Leute von oben beruhigt. Als die Reiterstaffeln kamen, habe "die Rebecca" gerufen: "Es sind nur Pferde, die trampeln keine Menschen nieder. Bleibt ruhig!"

Die Räumungsaktion galt als größter Polizeieinsatz der Nachkriegsgeschichte, 6000 Polizisten standen etwa 2000 Atomkraftgegnern gegenüber. Auch der Fotoreporter Günter Zint aus Hamburg wohnte damals im Protestdorf, er fotografierte die Räumung aus dem Fenster eines Hauses. Ohne Vorwarnung habe eine Planierraupe das Haus gerammt, nur Sekunden zuvor war Zint hinausgelaufen. "Reine Glückssache, dass ich diese Situation überlebt habe."

Als der Turm im Dorf fiel, den sie zum Spähen nutzten, herrschte Stille. Laut Marianne Fritzen war symbolisch die letzte Bastion gefallen. Deprimiert und still ging sie abends nach Hause, am nächsten Morgen kehrte sie zurück: "Alles war mit Stacheldraht abgesperrt. Heute ist die Stelle im Wald überwachsen. Nur Insider erkennen noch, wo die Freie Republik Wendland war."

Günter Zint buddelte den etwa laptopgroßen Sender aus, der im Umkreis einiger Kilometer die Räumung übertragen hatte. Zum 91. Geburtstag schenkte er ihn Marianne Fritzen, die zur Mutter der Anti-Atomkraft-Bewegung geworden war.

Nach der Wendenrepublik war sie in die Politik gegangen, gründete die Grünen mit und zog als erste Frau in den Kreistag von Lüchow-Dannenberg. Der Protest hielt jung: Heute skypt sie mit ihren Enkeln und versendet E-Mails - zur Energiefrage. Wenn es Demos gegen den Castor-Transport im Wendland gibt, ist Fritzen als Grande Dame oder Omi der Anti-AKW-Bewegung dabei. Auf einem Klappstuhl.

Den grünen Wendenpass besitzt sie natürlich noch, er sieht so echt aus, dass manch einer damit später durch Afrika gereist sein soll. Neulich empfing Marianne Fritzen einen Fernsehreporter aus Tokio. Nach Fukushima war dieser zum Geburtsort der deutschen Atomwende gereist - zur Marianne ins Wendland. Auch ihm gab sie als utopischen Hoffnungsschimmer etwas mit - einen lindgrünen Wendenpass. Doch für Japan, murmelt Fritzen, habe sie leider kein gutes Gefühl.