Wenn man spätnachts über die Petőfibrücke nach Budapest einfährt, liegt die Stadt in einem prachtvollen Lichtspiel vor einem: Freiheitsbrücke, Elisabethbrücke, Burg und Prachtbauten linker und rechter Hand der Donau. Das ist schon einer der schöneren Blicke, die einem eine europäische Stadt bietet. Noch ein paar Minuten weiter allerdings, einmal rechtsum und schon ist man in einer anderen Welt: Im himmelschreienden Elend des Keleti-Bahnhofs

Wir gehen durch Unterführungen direkt ins Untergeschoss. Hier schlafen Tausende Leute, junge Männer, Familien mit kleinen Kindern, ältere Ehepaare. Habseligkeiten, Zelte, Schlafsäcke, Koffer, Rücksäcke, alles liegt kreuz und quer. Das Untergeschoss ist  eine typische Bahnhofsunterführung, weitgehend überdacht also, mit ein paar Ausgängen und einem großen Lichtschacht. Die Luft ist stickig, wie sie eben so ist, wenn Tausende Menschen in einem geschlossenen Raum schlafen, noch dazu Menschen, die seit Wochen auf der Flucht sind, durch Dreck und Hitze und die Knäste Südeuropas. Irgendwo kollabiert ein junger Mann. Ärzte oder medizinische Hilfsteams sind keine zu sehen.

Eine syrische Kleinfamilie hockt auf dem Boden, ein Mann und eine Frau mit einem Baby, acht Monate ist es vielleicht alt. Das Baby grinst fröhlich. Seit fünf Tagen sitzen sie hier jetzt fest, erzählt die Frau. In den Zügen vom Montag haben sie keinen Platz bekommen, und jetzt sitzen sie hier in der Sackgasse. "Sind Sie Ungar?", fragt sie. "Nein, wir kommen aus Wien!" – "Was!? Wien!?"

Kinder auf Gefängnispritschen

Wir haben keinen Plan. Eigentlich haben wir vor drei Stunden noch nicht mal gewusst, dass wir hier sein werden. Es war schon abends, als mich Anahita Tasharofi anrief, eine iranischstämmige Wienerin, die für verschiedene NGOs in der Flüchtlingsbetreuung arbeitet. Anahita sagte, dass sie jetzt nach Budapest fährt. Okay, nehmen wir uns ein Auto. Anahita hat noch eine Freundin dabei. Let's roll.

Jetzt sind wir hier und es ist ein pittoreskes Bild. Der 150-jährige Bahnhofseingang aus der Neorenaissance im Rücken, davor der Blick auf das provisorische Camp, diese Bahnhofshölle. Und überall rundherum die Leuchtschriften: "Hotel."

Eine Gruppe junger Afghanen fragt, wie sie denn am besten nach Österreich kommen, wo der Übergang zu Fuß über die Grüne Grenze am einfachsten ist. Wir suchen einen Grenzort, zu dem sie mit dem Taxi fahren könnten – und wo man leicht über einen Feldweg nach Österreich kommt. Ich bin nicht der beste Kenner des östlichen Burgenlandes. Aber eine Stelle kenne ich.

Sie erzählen von ihrer Flucht. Wie sie mit einem sieben Meter langen Schiff auf eine griechische Insel fuhren. Wie man sie erst mal inhaftierte. Und ihnen dann ein Papier in die Hand drückte und wieder wegschickte. Irgendwie nach Athen. Bus nach Thessaloniki. Von dort zur mazedonischen Grenze. Schlagstockeinsätze und wieder Lager. Dann Serbien. Wieder Lager. Überall ein paar Tage, bis die überforderten Behörden sie wieder weiterziehen ließen. Und dann Gefängnis in Ungarn. "Wir haben das alles auf Video", erzählen sie. Sie holen den "Herrn Doktor", offenbar einen afghanischen Arzt, der mit seinem Sohn auf Reisen ist. "Sehen Sie, das ist der Sohn von dem Herrn Doktor." Sie zeigen mir ein Bild, ein schäbiges Gefängnis, eine harte Pritsche, keine Decken. Darauf ein Kind, vielleicht vier, fünf Jahre alt.