Geschrieben am 17. Oktober 2017 von für Bücher, Crimemag

Bloody Chops Oktober 2017

 

bloody chops

Bücher, kurz serviert

Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM), Frank Rumpel (rum.), Thomas Wörtche (TW) und Axel Vits (avi) über …

Mark Billingham: Love like Blood

Italo Calvino & Lena Schall: Das schwarze Schaf

Paul Duncan: David Bowie – The Man Who Fell to Earth

Lionel Davidson: Die Rose von Tibet

Paul Duncan & Jürgen Müller: Film Noir

Charles Lewinsky: Der Wille des Volkes

Louise Mey: Das Spiel mit der Angst

Quentin Mouron: Drei Tropfen Blut und eine Wolke Kokain

Anita Nair: Gewaltkette

Ernst Strouhal, Christoph Winder: Böse Briefe. Eine Geschichte des Drohens 

Tanguy Viel: Selbstjustiz

Dave Zeltserman: Small Crimes


Die Rose von Tibet von Lionel DavidsonAls Thriller noch Thriller waren

(AM) Es gab eine Zeit, in der ich Freunde danach einteilte, ob sie dieses Buch gelesen hatten. Denn es ist eine spektakuläre Erfahrung, eine Rückkehr zum Schmökern, und das auf feinstem Niveau. Geistiges Vergnügen, Adrenalin, Herzklopfen und Erdbeben gleichzeitig bietet dieser intelligente Abenteuerspaß aus dem Jahr 1962, jetzt dankenswerter Weise wieder aufgelegt bei Penguin, wo man als in Deutschland neues Imprint in kaum mehr als einem Jahr bereits ein bemerkenswertes Profil entwickelt hat. Weitere Romane des großen Thrillerautors Lionel Davidson sollen folgen, ich freue mich schon auf ein Wiederlesen mit „Der Rabe“ (Kolymsky Heights, 1994, Kritik von Thomas Wörtche hier).

Der Roman führt uns in den Himalaya und in das von buddhistischen Prophezeiungen und der chinesischen Invasion verdüsterte Tibet der Jahre 1949 bis 1951, ist Bergsteiger-Roman, Survival-Epos, bitterschöne und zarte Romanze, große Legende – und in der Rahmenkonstruktion eine witzige Zustandsbeschreibung der Verlagswelt. Kaum verhüllt, zeichnete chop davidson UK 9780060805937Lionel Davidson in seinem damals zweiten Roman, in dem er selbst als Autor auftritt, ein ziemlich schräges Porträt seines Verlegers David Gollancz. „Freundlichkeit ist keine Hilfe – weder für den Autor noch für uns. Sie kann sogar äußerst grausam sein“, heißt es einmal über das Lektorat. Nicht nur wird eine wunderschöne Liebesgeschichte erzählt – der Held landet in einem mystischen Frauenkloster mit tausend Priesterinnen und verliebt sich -, es wird auch das Erzählen selbst verhandelt. Immer noch eine Köstlichkeit, ein Edelstein, dieses Buch. Und lassen Sie sich von den ersten 50 Seiten nicht abschrecken, später machen sie großen Sinn. Und extra Spaß. Meine englische Taschenbuchausgabe übrigens hat den gleichen gelben Buchschnitt wie die Thriller von Andreas Pflüger (siehe das Interview mit ihm in diesem CrimeMag), auch so kann eine Staffelübergabe aussehen …

Lionel Davidson: Die Rose von Tibet (The Rose of Tibet, 1962). Aus dem Englischen von Ursula Gnade. Penguin Verlag, München 2017. 444 Seiten, 10 Euro.

chop Nair_Gewaltkette_homepageUngeschönt, dreckig, seltsam …

(TW) Ein seltsames Buch ist Anita Nairs Gewaltkette. Seine Intention ist natürlich ehrenwert, gut und wichtig: Es geht um Kinderhandel und Kinderprostitution in Indien, um eine Umbruchsgesellschaft zwischen Tradition und HighTech, in der aber die Machtverhältnisse zwischen sehr reich und sehr arm ganz massiv und brutal zu Tage treten.  Nair liefert ein ungeschöntes, von jeder Art netten Exotismus´ freies Bild und schaut genau in die übelsten Schmutzecken – wobei Schmutzecken das falsche Wort ist: es handelt sich eher um riesige Schmutzräume, um flächendeckendes Elend. In diesem ganzen Rott ermitteln Kommissar Gowda und seine Truppe in Bangalore. Und an dieser Stelle wird es seltsam: Gowda ist ein moderner Verwandter von Inspector Ghote – den hatte H.R.F. Keating in den 1960er Jahre erfunden und mit seiner gleichnamigen Romanserie Indien als Subkontinent des Verbrechens auf die kriminalliterarische Weltkarte geschrieben, ohne lange Zeit selbst Indien betreten zu haben. Man könnte einwenden, dass Keatings Romane bei aller Benevolenz letztendlich und unvermeidlicherweise doch den weißen, männlichen und vor allem kolonialen Blick (Keating war der Nachfolger von Graham Greene bei der „London Times“) präsentierte. Deswegen ist es ja verwunderlich, dass Nair die Keating-Blaupause ziemlich deutlich verwendet, ohne sie zu beschädigen oder auch nur anzukratzen. Der sture, leicht knorzige Gowda klärt heutzutage auf wie damals der sture, leicht wunderliche Ghote. Allerdings verzichtet Nair noch auf ein paar Qualitäten, die Keatings Romane durchaus hatten: Ironie, Witz und Komik. Sie reproduziert im Grunde narrative Grundmuster der 1960s und dadurch wird Gewaltkette zwar zu einer sicherlich notwendigen und wichtigen Sozialreportage – aber eben eine Sozialreportage mit schlichter Spielhandlung, der Literarizität weithin abgeht. Vermutlich schielt Nair auf einen breitenkompatiblen internationalen Markt (was natürlich grundsätzlich völlig okay ist), dennoch bleibt die Verwunderung, warum eine moderne indische Frau ein altes, und nicht mehr dem state of the art entsprechendes, britisches Muster ausschreibt und keine eigene Erzählstrategie entwickelt. Seltsam.

Anita Nair. Gewaltkette. Roman. Übersetzt von Karen Witthuhn. Argument/Ariadne, Hamburg 2017. 352 Seiten, 19,- Euro.

chhop mouron_drei tropfen blut_cover-300dpiChaos in Boston

(rum.) Ein paar Tage in einer Bostoner Vorstadt. In einem Armenviertel liegt ein alter Kauz ermordet und verstümmelt in seinem Pick-up. Die Tochter des Opfers bezichtigt ihren eigenen Freund, einen Drogendealer, des Mordes. Ihn nimmt die Polizei zwar fest, ist von dessen Schuld aber nicht so ganz überzeugt. Die Ermittlungen treten auf der Stelle. Eine Spur führt zu einem stadtbekannten Mafioso. Ein Motiv für einen Mord indes fehlt. Die Untersuchungen leitet Sheriff Paul McCarthy, ein gottesfürchtiger Polizist, der am Stadtrand mit seiner Familie ein geordnetes Leben führt und seine Lieben um jeden Preis von der Unbill des Lebens, die er bei seinem Job zuhauf zu sehen bekommt, fernhalten will. Derweil ist der New Yorker Privatdetektiv Franck in der Stadt, ein zynischer Zeitgenosse, der ohne Kokain nicht in die Gänge kommt und seinerseits ein paar Ermittlungen anstellt, ein paar Fäden zieht, einen Musiker ermordet und schließlich McCarthy auf die Pelle rückt.

Das ist konzentriert und glänzend geschrieben, eine schillernde Geschichte über Zufall und Willkür und darum, wie das Überschreiten von Grenzen den Blick auf die Welt verändert. Für den gläubigen Sheriff gerät während der Ermittlungen einiges aus dem Lot. Was, wenn es für die Tat kein Motiv gab, wenn da einfach einer ziellos mordend durch die Gegend zieht? Dann hätten sie kaum eine Chance, ihn zu schnappen und es würde zudem die größere Ordnung, die er so sehr schätzt, ins Wanken bringen. Sein Gegenspieler Franck steht derweil für das Chaos. Er kann es sich dank einer gut gehenden Detektei leisten, sich treiben zu lassen, Verwirrung zu stiften und ganz nebenbei einen arroganten Kriminalschriftsteller namens James Ellsor in die Schranken zu weisen.

Der 1989 in Lausanne geborene, in Kanada aufgewachsene und nun wieder in der Schweiz lebende Quentin Mouron treibt diese Geschichte, die schlüssiger und zupackender erzählt ist, als der Vorgänger „Notre-Dame-de-la-Mercy“, mit dunklem Witz voran, macht daraus einen intelligenten und ziemlich fiesen Kriminalroman, in dem die Auflösung des Falles übrigens nur eine marginale Rolle spielt.

Quentin Mouron: Drei Tropfen Blut und eine Wolke Kokain (Trois gouttes de sang et un nuage de coke, 2012). Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Andrea Stephani. Bilger-Verlag, Roman, Zürich, 2017. 240 Seiten, 24,80 Euro.

Lewinsky_WilleVolkes_125x205_HCSU_P04DEF.inddPessimistische Satire als Detektivroman

(JF) Einen grimmigen Blick in die nahe Zukunft wirft der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky in seinem dystopischen Kriminalroman „Der Wille des Volkes“. Mithilfe moderner digitaler Technologie haben die nationalistischen Eidgenössischen Demokraten – Parallelen zu real existierenden Parteien scheinen beabsichtigt – die Schweiz in einen totalitären Überwachungsstaat verwandelt. Und wer ihnen dabei in die Quere kommt, ist seines Lebens nicht mehr sicher. Davon ist zumindest Kurt Weilemann überzeugt, einst ein tapferer investigativer Reporter, aber nun schon lange pensioniert. Als ein ehemaliger Kollege ihm eine kryptische Nachricht zukommen lässt, ist er zunächst nur irritiert. Misstrauisch wird er, als er kurze Zeit später von dessen angeblichem Suizid erfährt. Angestiftet von einer Freundin des Verstorbenen beginnt er zu recherchieren und kommt einem ausgewachsenen Politskandal auf die Spur. Danach sieht es zumindest aus. Dass Weilemann längst selbst zum Spielball mächtiger Interessen geworden ist, wird ihm erst schmerzlich bewusst, als es zu spät ist.

„Der Wille des Volkes“ überzeugt als pessimistische Satire im Gewand eines klassischen Detektivromans. Vor allem Leser, und hier steht bewusst nur die maskuline Variante, die sich dem Rentenalter nähern, werden ihr Vergnügen an Weilemanns Hadern mit den Zumutungen der schönen neuen Digitalwelt haben. Und allen anderen darf ruhig ein wenig angst und bange werden.

Charles Lewinsky: Der Wille des Volkes. Kriminalroman. Nagel & Kimche, München 2017. 384 Seiten, 24,- Euro.

boesebriefe_downloadDie brüllenden Buchstaben

(AM) Der Brief ist aus lauter Einzelbuchstaben zusammengeklebt: „Ich habe ihr Buch. Schicken sie mir 1 Million Euro oder ich schneide noch mehr Buchstaben aus!“ Diese Postkarte liegt dem schönsten True-Crime-Buch der Saison als Werbemittel bei. Um an sie und ans Blättern und Lesen zu kommen, muss man das Buch erst aufschnüren, es hat eine Aktenmappenbindung mit Schnurverschluss, kommt wie ein Dossier daher und entzückt von der ersten bis zur letzten Seite. Wann habe ich zuletzt ein Personen- und Sachregister mit roten Seitenzahlen gesehen, obwohl so etwas doch wirklich hilfreich ist? Überhaupt ist das Buch vorbildlichst gestaltet und ausgestattet, eine Freude von vorn bis hinten.

Und die Idee ist einfach großartig: Eine Geschichte des Drohens und Erpressens, ein kulturhistorischer Streifzug durch die Kriminalgeschichte, all das großzügig mit schwer zugänglichen Dokumenten illustriert, aus Asservatenkammern der Polizeibehörden oder aus Privatsammlungen losgeeist. Gut 30 Fälle quer durch die Jahrhunderte blättern die Autoren vor uns auf, der älteste Fall der Drohbrief des Raubritters Dietrich von Quitzow aus der Mark Brandenburg um 1400. Natürlich fehlen auch nicht Choderlos de Laclos’ Briefroman „Liaisons dangereuses“ von 1782, der Erpresserbrief im Fall Lindbergh, die Briefes des Zodiac-Killers, die Bekennerschreiber der RAF, die Forderungen in Sachen Patty Hearst, die Anthrax-Brieffserie in den USA, 2001, der Unabomber oder die Spaßguerilla mit der Entführung des Bahlsenkeks in Hannover, 2013. Auch von Jack the Ripper findet sich Material, die „bösen Briefe“ sind wie die Liebesbriefe unabdingbarer Teil der Briefkultur. In Literatur und Film ist der böse Brief ein narrativer Brandbeschleuniger: Das Öffnen des Kuverts, stilles Lesen, entsetzte Gesichter – das wird oft variiert, von Clouzots „Le Corbeau“ (1943) bis zu „Burn After Reading“ von den Coens (2008). Kluge Zwischenkapitel behandeln die Kältekammern der Briefkultur, die Handschriften der Täter, die Schreibmaschine und die Sprache als Waffe. Die brüllenden Buchstaben eben. Und bei allem Spaß präsent sind da dauernd auch die Schatten der heutigen Hass-Postings und Interneterpressungen.

Ernst Strouhal, Christoph Winder: Böse Briefe. Eine Geschichte des Drohens und Erpressens. Ein kulturhistorischer Streifzug durch die Kriminalgeschichte. Verlag Brandstätter, Wien 2017. Format 22 x 28 cm, Flexo-Bindung mit Aktenmappen-Verschluss. 224 Seiten, ca. 100 Abbildungen, 34,90 Euro.

calvino_cover_Ly02.inddWie kam der Reichtum in die Welt? Wie die Armut?  

(avi) Es gab mal eine Stadt, in der alle Einwohner Diebe waren. So beginnt die Kurzgeschichte von Italo Calvino, die hier von der überragenden Illustratorin Lena Schall bildhaft umgesetzt wurde. In jener namenlosen Stadt verließen die Bewohner mit Anbruch der Dämmerung ihre Häuser und schlichen mit Sack, Taschenlampe und Dietrich bewaffnet um die Ecken. Erst im späten Morgengrauen kam jeder voll bepackt zurück – und fand sein eigenes Haus leer geräumt vor.

Da aber nun jeder jeden bestahl, und das Nacht für Nacht, hatte auch jeder sein Auskommen, und daher was auch alles gut. Handel kannte man in dieser Stadt nur in Form von Betrug, und selbst die Regierung war allein dafür zuständig, ihre Untertanen bis aufs letzte Hemd auszuplündern, wobei diese es ihnen in gleicher Weise heimzahlten, indem sie wiederum ihre Regierung rückhaltlos übers Ohr hauten. Dieses System gelang so gut, dass jeder mehr oder weniger zufrieden war, denn es gab weder Reiche noch Arme. Bis dann eines Tages ein Ehrlicher in die namenlose Stadt kam, der, anstatt nachts auf Raubzug zu gehen, viel lieber zu Hause blieb und Romane las. Als wie gewohnt die friedlichen Einbrecher kamen und das Licht brennen sahen, stiegen sie nicht ein und zogen unverrichteter Dinge weiter. Nun war die Kette zum ersten Mal durchbrochen, das Durcheinander nahm seinen tragischen Verlauf. 

Man kann und muss die Arbeitsweise, deren sich Lena Schall hier bedient hat, nur einzigartig und unverkennbar nennen. Was da in einer wilden Mixtur aus Collagen, Zeichnungen und modellierten Figuren ins Auge fällt, grenzt schon an ein kleines, farbenprächtiges Wunder. 

Italo Calvino: Das schwarze Schaf. Mit Illustrationen von Lena Schall. Verlag Mixtvision, München 2017. Gebunden, im Schmuckschuber, durchgängig farbig illustriert. 32 Seiten, 19,90 Euro.

chop tanguy 9783803132901Vielleicht nur ein Unfall

(rum.) Eigentlich ist alles klar in Tanguy Viels aktuellen Roman „Selbstjustiz“. Beim Hummerfischen vor der bretonischen Küste bei Brest warf Martial Kermeur jenen Mann über Bord, der ihn ruiniert hatte. Der Mann starb im kalten Atlantik und nun sitzt der des Mordes angeklagte Kermeur einem Richter gegenüber und erzählt ihm alles, erzählt von seiner gescheiterten Ehe, wie er seinen Sohn allein groß zog, wie er sein bescheidenes Leben an der bretonischen Küste als Gutsverwalter fristete, wie der Spekulant Antoine Lazenec mit großen Plänen auftauchte, ein Seebad, Tourismus, Wohlstand, kurz ein besseres Leben versprach. Und Kermeur, der, wie viele andere im Ort von der in Auflösung begriffenen Marinebasis gerade eine Abfindung bekommen hatte, ließ sich wider besseren Wissens bezirzen, investierte, was er hatte, in ein Luftschloss, das nie gebaut wurde. Und Lazenec baute nicht nur nicht, sondern verprasste das Geld vor aller Augen und keiner der Betroffenen sprach über seine Misere, jeder schämte sich ob seiner Dummheit und seiner Gier.

Das holt der Ich-Erzähler Kermeur nun nach, legt gegenüber dem Richter eine schonungslose Lebensbeichte ab, die einen Menschen zeigt, der immer alles richtig machen wollte, gelegentlich vielleicht zu zögerlich, zu unentschlossen war und der dann ganz gegen seine Natur, eine spontane Entscheidung traf, die sich als fatal erweisen sollte. „Es gab einen Riss in mir, und Lazenec drang hinein wie der Wind“, beschreibt er die listige, soziale Intelligenz seines Widersachers. Und der Richter muss schließlich entscheiden, ob sein Gegenüber ein Mörder ist oder ob es vielleicht doch nur ein Unfall war.

Der französische Autor Tanguy Viel erzählt das wunderbar konzentriert, klar, sehr elegant, braucht gerade mal knapp 170 Seiten für diese sacht gewundene, kluge, immer wieder überraschende Geschichte über Moral und eine verzweifelte Hoffnung auf das große Glück, das schon bei flüchtiger Betrachtung fadenscheinig wirkt. Klasse.

Tanguy Viel: Selbstjustiz (Article 353 du code nénal, 2017). Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017. 168 Seiten, 20 Euro.

chop billingham 51AT8EdfHHL._SX318_BO1,204,203,200_Dienstleistungen für die Ehre

(TW) Ein guter Polizist, das ist Tom Thorne, der Serienheld von Mark Billingham. In Love like Blood hegt er den richtigen Verdacht, dass man in London und sonstwo auf der Welt, sogenannte „Ehrenmorde“ professionell auslagern kann, wenn die sich in ihrer Ehre gekränkte Familie – weil ihre Tochter einen unangemessenen Lebenswandel führt oder ungünstig heiraten möchte – nicht selbst die Finger schmutzig machen will. In der richtigen Moschee können die betroffenen Familien (hier meistens aus Südostasien) die entsprechenden Dienstleister vermittelt bekommen, die sehr effektiv zu Werke gehen. Love like Blood ist ein grundsolider Polizeiroman, ohne Scheuklappen, mit differenziertem Blick und ohne These. Der schöne Twist am Ende bewahrt das Buch vor einer allzu einseitigen Lesart und damit vor populistischer Funktionalisierbarkeit. Feiner middle-of-the-road-Krimi.

Mark Billingham: Love like Blood. Roman, Übers.: Peter Torberg. Atrium Verlag, Zürich 2017.  432 Seiten, 20,- Euro.

chop Dave-Zeltserman-Small-Crimes-654x1024Bekanntes Setting, aber krass

(TW) Akademisch wie alle seine Bücher ist Small Crimes von David Zeltserman. Akademisch in dem Sinn, dass Zeltserman eine aus tausend ähnlichen Texten bekannte Standardsituation aufbaut und dann schaut, was man daraus machen kann. Das Setting ist allzu bekannt: Klein/Mittelstadt, hier in Vermont, total korrupter und verbrecherischer Sheriff, der örtliche Gangsterboss mit deviantem Sohn, Biker, Meth-Kocher, Huren mit großem Herzen, einer superscharfen Reporterbraut und so weiter, gähn. Die Hauptfigur ist ein ziemlich schlimmer Finger von Ex-Cop, der aus dem Knast kommt (weil er dem Staatsanwalt im Koksrausch das Gesicht zerschnitten hatte) und wieder schmerzhaft mit seinem Vorleben konfrontiert wird.  Zug um Zug, wie bei einem Schachalgorithmus, setzt Zeltserman seinen Helden matt, verlegt jedes Schlupfloch, mauert ihn ein, begrenzt seine Optionen, lässt ihn an sich selbst und den Umständen scheitern, bis … naja, ist ja ein Noir. Plausibilität schert Zeltserman  wenig, ihm geht es um existentielle Endspiele mit gewissem Ausgang. Deswegen ist auch sein Realitätskonstrukt seltsam kontextfrei, abstrakt, auch weil, siehe oben, die Grundbausteine aus dem Baukasten stammen und nicht weiter konkretisiert werden müssen. Was übrigens in dem Fall von Vorteil ist und sich der Roman auf das krude Innenleben seiner Hauptfigur konzentrieren kann, dessen wishful thinking immer grotesker wird. Dadurch wird Small Crimes schon fast zur Parabel. Und als solche schon völlig okay. Welt und Leben sind halt scheiße. Jo.

Dave Zeltserman: Small Crimes (2008). Übersetzt von Michael Grimm und Angelika Müller. Roman. Pulp Master, Berlin 2017. 270 Seiten, 14,80 Euro.

chop Mey 46784Frustrierende Polizeiarbeit, brilliant geschildert

(JF) Alex Dueso, geschieden, eine Tochter, ist bei der Pariser Polizei für Sexualdelikte zuständig. Wer ihre Arbeit kennt, dürfte sich nicht wundern, dass sie sich allabendlich mit reichlich Bier betäubt. Sie kauft es in Dosen, dann lässt es sich geräuschloser transportieren. Ihr Zustand geht niemanden etwas an. Und noch funktioniert sie, auch wenn der Kampf gegen die grassierende sexuelle Gewalt beinahe aussichtslos erscheint. Denn diese spiegelt in der Regel die herrschenden Geschlechterverhältnisse. Umso perplexer ist ihre Reaktion, als sie es mit dem ersten männlichen Opfer zu tun bekommt. Ein junger Mann hat die Vergewaltigung mit einem hölzernen Gegenstand nur knapp überlebt. Da es sich um einen ausgesprochen unsympathischen Zeitgenossen handelt, der sich zudem über den Tathergang ausschweigt, geht die Polizei zunächst von einem Racheakt aus. Doch dann häufen sich Fälle dieser Art und Alex Dueso muss in eine ungewohnte Richtung ermitteln. Erfolg hat sie nicht.

„Das Spiel mit der Angst“, das Krimidebüt der französischen Autorin Louise Mey, brilliert in der Schilderung frustrierender Polizeiarbeit. Und es ist vielleicht der einzige Schwachpunkt dieses exzellenten Spannungsromans, dass nach genau 350 Seiten eine junge Kollegin mit Computerkenntnissen auftaucht, deren Expertise blitzartig zu Ergebnissen führt und der Heldin die Steilvorlage für die genrekonforme Lösung des Falls, moralisches Dilemma inclusive, liefert. So erinnert der Roman auf bizarre Weise an den zweiten „Dirty Harry“-Film, mit dem der kluge Hollywood-Reaktionär Clint Eastwood den Vorwurf, er propagiere Selbstjustiz entkräften wollte. Auch das macht ihn lesenswert.

Louise Mey: Das Spiel mit der Angst (Les Ravagé(e)s). Thriller. Aus dem Französischen von Thomas Brovot. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 430 Seiten, 10,95 Euro.

bu-film_noir-cover_49343Bibeldicke Huldigung an die Hölle auf Erden

(AM) „In einer Welt, in der es nur Gewinner gibt, was sollen da die Verlierer tun?“, sagt Steve McQueen in Sam Peckinpahs elegischem Rodeo-Film „Junior Bonner“ (1971). Film noir ist das Genre, das zugibt, dass wir Verlierer sind. Film noir, das ist: Ende des Idealismus/ Realisieren der Banalität des Bösen/ Das Wissen um Waffen, die unterschiedslos und massenhaft töten können/ Das Zeitalter einer neuen Angst und unbestimmter Feinde/ Das neue Zeitalter des Verrats auf allen Ebenen (HUAC lässt grüßen). Film noir macht sogar das Unbehagen am Kinogehen selbst zum Thema, stellt die Gewissheiten des eigenen Mediums in Frage – kein anderes Filmgenre fordert die Wahrnehmungs- und Urteilskraft seiner Zuschauer so sehr heraus, sabotiert den einfachen Genuss. Noir als literarischer wie filmischer Ausdruck entstand in den Wurzeln nach dem Schrecken des Ersten und im Nachhall des Zweiten Weltkriegs, im Zerstieben des amerikanischen Traums (und auch anderer), in Desillusionierung und Fatalismus, in einer Welt der traumatisierten Kriegsveteranen und des rücksichtslos gewordenen Überlebens.

Ein dickes Buch über Verlierer also. Dick wie eine Bibel ist diese Huldigung an die Hölle auf Erden, an das Schwarze in der Menschen- und Zivilisationsseele. Aber derart viele gute Filme zu solch schlanker Münze gibt es selten, wenn nicht nie. Beim Verlag Benedikt Taschen hat man es zur Meisterschaft darin gebracht, in kleinem, aber feinem Format und mit dazu unschlagbarem Preis-Leistungsverhältnis ehemals teure(re) Bücher als wahre Volksausgaben zu positionieren. Die Bücher werden dabei nicht einfach verkleinert und simpel übernommen: Der Vorlage folgend, wird dabei je eine neue Dramaturgie entworfen und umgesetzt. Das Szenenfoto mit Peter Lorré aus „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, 1931, zum Beispiel kommt jetzt als Doppelseite daher, hat eine ganz andere Kraft als vorher nur halbseitig. So ist es auch mit Rita Hayworth und Orson Welles in „Die Lady von Shanghai“, 1948, und in vielen anderen Fällen. Weiter hinten im Buch sind die Filmplakate nun seitenfüllend, in der früheren Ausgabe hatten sie manchmal nur Briefmarkengröße. Auch die vielen Zitate kommen nun in größerer Schrift.

Die „Bibliotheca Universalis“ ist auf mittlerweile über 100 Bände angewachsen, auf der Buchmesse war das eine beeindruckende Regalwand. Und schwer sind sie, die kleinen, oft über 600 Bilddruck-Seiten starken Bände. Gewichtig im buchstäblichen Sinne. Für „Film Noir“ zeichnen Paul Duncan und Jürgen Müller als Herausgeber, zu Recht enthält die Innentitelseite den Hinweis „mit Texten von Alain Silver, James Ursini et al.“ Der üppige, makellos und reichhaltig illustrierte Band ist ein – gelungenes – Amalgam zweier Taschen-Titel, nämlich aus dem 2004 erschienen „Film Noir“ und dem 2014 herausgekommen „100 Klassiker des Film noir“ (CM-Kritik hier). Die wurden jetzt auf „Taschens Top 50 Noir-Klassiker“ verschlankt, die allermeisten Texte aber übernommen. Als wohltuend empfinde ich, dass sich gegenüber 2014 die Lesefreundlichkeit erheblich verbessert hat. Endlich sind die Schwarzfelder mit weißer Schrift passé, ich weine keine Träne. Zwar gibt es eine Chronologie und Bibliografie, ein Film- und Personenregister wäre noch das I-Tüpfelchen gewesen. Aber bei diesem Preis und dieser Leistung darf man nicht meckern. Ein wunderbares Mitbringsel, ein Buch, das auch einer jüngeren Generation ein wichtige Filmepoche näherbringen kann.

Paul Duncan & Jürgen Müller: Film Noir, Inklusive Taschens Top 50 Noir-Klassiker von 1940 bis 1960. Mit Texten von Alain Silver, James Ursini et al. Verlag Taschen, Köln 2017. Hardcover, Bibliotheca Universalis, durchgängig illustriert. 648 Seiten, 14,99 Euro. Verlagsinformationen hier.

bu-bowie_man_who_fell_to_earth-cover_49348Sonnenbestrahltes SF-Noir

(AM) Ebenfalls aus Taschens Bibliotheca Universalis kommt dieses Kult-Filmbuch. „It’s all a question of balls“, bleibt mir eines der unvergänglichen Zitate von Walter Tevis, der für die existentialistischen Billiardfilme „The Hustler“ (1959), „Die Farbe des Geldes“ und eben auch für „Der Mann, der vom Himmel fiel“ (1976) die literarische Vorlage geliefert hat. Nicholas Roeg drehte zehn Wochen in New Mexiko, dann in L.A., hatte das Mick-Jagger-Movie „Performance“, „Walkabout“ und „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ vorgelegt. Hauptdarsteller David Bowie war 28 Jahre alt. Alles, was er zur Vorbereitung für seine Rolle als Alien tun musste, war einen Hut aufzusetzen. „It was a relaxed set, everybody was having fun“, schreibt Filmhistoriker Paul Duncan in seinem Essay „Der Sturz“. Es ist ein heute noch befremdlicher naher, seltsam menschlicher Film, 136 Minuten lang – und eine Seherfahrung im Grenzland von Science Fiction und sonnenbestrahltem Noir. Roeg war 1966 der Kameramann in Truffauts „Fahrenheit 451“ gewesen.
Bowie ist absolut perfekt als der vom Himmel gefallene Außerirdische, der Wasser für seinen austrocknenden Heimatplaneten finden muss, deshalb zu diesem Element eine besondere Beziehung hat. Unter seinem irdischen Alias Thomas Jerome Newton gründet er die Firma „World Enterprises“, wegen seiner verblüffenden Patente wird er bald zum Spielball von Gier und Intrigen. Eigentlich will er nur Geld machen und erfolgreich sein, um ein Raumschiff zu bauen, gleichzeitig weiht ihn die Kleinstadtbewohnerin Mary-Lou in die Mysterien menschlicher Sexualität und Nähe ein. Erblindet, missbraucht, weggesperrt und seiner Träume beraubt, endet er als normaler Erdenbewohner, die kapitalistische Welt kann einen wie ihn nicht brauchen. Die Stand- und Setbilder des Fotografen David James sind aufregend, sind Kunst. Am schönsten finde ich, wie Bowie auf einem Sofa die Biografie von Buster Keaton liest.

Paul Duncan: David Bowie – The Man Who Fell to Earth. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. Verlag Taschen, Bibliotheca Universalis, Köln 2017. Hardcover, 480 Seiten, 14,99 Euro. Verlagsinformationen hier.

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