Bayern 2 - Hörspiel


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Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 BR Hörspiel von Frank Witzel

Stand: 07.03.2018 | Archiv

intermedium records Cover Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 | Bild: Frank Witzel

Rund 15 Jahre lang schrieb Frank Witzel an seinem kunstvoll gewebten Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969", den der BR als Hörspiel produziert hat. Eine Herausforderung, für den mehr als 800 Seiten starken Text eine verdichtete akustische Erzählform zu finden

Deutscher Hörbuchpreis 2017 in der Kategorie "Bestes Hörspiel"

Die Hörspieladaption von Frank Witzels Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" wird in der Kategorie "Bestes Hörspiel" mit dem Deutschen Hörbuchpreis 2017 prämiert. Ausgezeichnet werden der Autor Frank Witzel und der Regisseur Leonhard Koppelmann. Die Produktion ist bei intermedium records im belleville Verlag erschienen. Zum Wettbewerb waren 324 Titel von rund 70 Verlagen bzw. Produzenten eingereicht worden.

"Regisseur Leonhard Koppelmann und Autor Frank Witzel schaffen mit ihrem Hörspiel etwas Außergewöhnliches: Ein eigenständiges Kunstwerk, das in Vor- und Rückblenden zwischen Phantasie und Realität pendelt, dabei jedoch nie seinen roten Faden verliert.
Von der Besetzung über die Story und die vom Autor selbst geschriebene Musik bis zum informativen, schön gestalteten Booklet – hier stimmt einfach jedes Detail."

Jurybegründung Deutscher Hörbuchpreis 2017

"Die Übertragung eines so überbordenden Romans in ein Hörspiel kann gleichermaßen Glücksfall wie Risiko sein. Autor, Zeichner und Musiker Frank Witzel und Regisseur Leonhard Koppelmann haben mit ihrer Adaption ein eigenständiges akustisches Kunstwerk geschaffen. Sie sind dem Text in seiner offenen Form und nicht-linearen Erzählweise mit pedantischer und phantastischer Genauigkeit auf vielen Wegen begegnet –  unter anderem über Klangräume, Musik und Zeichnungen (die Eingang in die Hörbuchgestaltung fanden).  Dass das Ergebnis dieser gemeinsamen Begegnung und Spielfreude nun mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet wird – vor allem in seiner schönsten Kategorie 'Bestes Hörspiel' – freut mich enorm."

Katarina Agathos, Chefdramaturgin BR Hörspiel und Medienkunst

Über den Preis

Mit dem Deutschen Hörbuchpreis werden deutschsprachige Hörbuchproduktionen ausgezeichnet, die in besonderer Weise die Stärken und Möglichkeiten des akustischen Mediums vorführen und damit beispielhaft wirken.

Die Kategorie Bestes Hörspiel zeichnet die herausragende Umsetzung fiktionaler Inhalte in bearbeiteter und dramatisierter Form aus. Bei der Umsetzung bestehender Buchvorlagen in Hörspiele ist ein wesentlicher Gesichtspunkt, dass durch die Bearbeitung und Dramatisierung ein akustischer Mehrwert entsteht.

Träger des Preises ist der 2006 gegründete Verein Deutscher Hörbuchpreis, dem der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Hessische Rundfunk, die lit.COLOGNE, der Norddeutsche Rundfunk, Studio Hamburg, der Westdeutsche Rundfunk und die WDR mediagroup angehören.

Verwerfungen in der BRD des Jahres 1969

Gudrun Ensslin, eine Indianersquaw aus braunem Plastik, und Andreas Baader, ein Ritter in schwarzglänzender Rüstung, – so vermischen sich im Kopf des 13-jährigen namenlosen Erzählers in Frank Witzels Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 die politischen Verwerfungen in der BRD des Jahres 1969 mit seinen kindlich-spielerischen Fantasien. Das Jugendzimmer wird hier zum Echoraum der Geschichte und der hier ausgetragene Aufstand gegen die Trias Familie, Staat und Kirche ist nicht minder real, als die von der RAF geträumte Revolution auf bundesdeutschen Straßen.

Zusammen mit dem Teenager begeben wir uns in den oszillierenden Raum seiner manischen-depressiven Störung – seine Lebensorte überlagern sich und verwischen, da erscheinen das bereits erwähnte Jugendzimmer ebenso, wie der letzte Ort seines kurzen Lebens im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. In diese Echoräume schieben sich aber immer wieder auch konkrete Lebenserinnerungen des Teenagers. Die Vergangenheit, ihr Geruch, ihr Geschmack und die darin wohnenden Ängste und Traumata brechen durch eine mühsam geklitterte Oberfläche, genauso wie in dieser Zeit die Wundkrusten der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft aufreißen und die Metastasen der verborgenen und verdrängten Nazizeit plötzlich freilegen.

Seine Jugend zwischen Kirche und Krankheit setzt den jugendlichen Erzähler fortwährenden Befragungs-, Verhör- und Geständnissituationen aus – ob in seiner Therapie oder im Beichtstuhl. Und mit jeder Frage und jedem Geständnis brechen neue Krusten auf. Schließlich erliegt er diesem inneren Zeitbeben. Über seine manische-depressive Störung befindet der Erzähler dabei, „man ist ja nicht immer wahnsinnig, sondern man ist wahnsinnig und dann wieder nicht, so wie man liebt und dann wieder nicht.“ So unstet wie seine Zustände ist auch seine Erzählung, und so befindet er weiter: „erlöse uns von unseren Gedanken und Meinungen und dem Versuch, Geschichte zu rekonstruieren und immer gleiche Gedanken in Wiederholungen zu perpetuieren und damit das kardiovaskuläre System langsam nach unten zu fahren.“

Das Aufheben der linearen und chronologischen Erzählweise ist hier eben nicht erzählerisches Mittel zum Zweck, sondern Ausdruck dieser „frei in der Zeit flottierenden Geschichtsschreibung“, mit der sich Frank Witzels Roman gegen die herkömmliche Deutung der Geschichtsschreibung und Interpretation wendet.

Witzel hat sich dem Transfer seines Textes in ein anderes Medium sowohl über Zeichnungen angenähert als auch insbesondere über die Musik, die er selbst für die Radiofassung schreibt und produziert.

"Unterschwellig, beinahe unbewusst, als Rhythmus und Teil der Stimmung, die den Roman durchzieht, war etwas da, das ich nur mit musikalischen Begriffen hätte beschreiben können, ohne dass ein konkreter Klang für mich hörbar gewesen wäre. Jetzt, in der Hörspielfassung, kommt diese Musik zum ersten Mal an die Oberfläche, entwickelt sich mit dem aufgeführten Text, wird Teil der dargestellten Zeit, der Handlung, der Dialoge."

Frank Witzel

"Es ist eine Kunst, den mehr als 800 Seiten umfassenden Roman von Frank Witzel, der im vergangenen Jahr überraschend mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden ist, in ein nicht mehr als eine Stunde und 40 Minuten dauerndes Hörspiel zu verwandeln, ohne die Substanz dieses ausschweifenden 'hybriden Konstrukts aus Pop, Politik und Paranoia', einer Collage aus unterschiedlichen literarischen Verfahren, anzutasten. Dieses kleine Wunder ist der Tatsache geschuldet, dass der Autor gemeinsam mit dem versierten Hörspielregisseur Leonhard Koppelmann an der akustischen Umsetzung des Textes gearbeitet hat und außerdem für die Komposition des Soundtracks verantwortlich zeichnet. Entstanden ist ein unglaublich frisches, lebendiges, den Hörer geradezu anspringendes Hörspiel. Weit davon entfernt, eine 'akustische Fassung' zu liefern, gelingt es diesem Hörspiel, den Roman über einen 13-jährigen Schulversager in Wiesbaden-Biebrich, der sich mit Freunden im Sommer 1969 - vor dem Hintergrund der Kaufhausbrandstiftung der späteren RAF - eine paranoide Welt zusammenzimmert, auf ganz eigenständige Weise neu zu erschließen. Wesentlichen Anteil daran hat die durchgehend mitlaufende zweite Tonspur: eine spannende Mixtur aus Tönen, Geräuschen, Musikfetzen und von Witzel komponierten (und gesungenen) Songs, die einen zusätzlichen atmosphärischen Hörraum für 'Die Erfindung der RAF' schafft."

Hörspiel des Monats Juni 2016, Jurybegründung der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste

Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969

Mit Jonas Nay, Edmund Telgenkämper, Valery Tscheplanowa, Christiane Roßbach, Peter Fricke, Oliver Nägele, Shenja Lacher, Götz Schulte

Musik: Frank Witzel
Bearbeitung: Leonhard Koppelmann/Frank Witzel
Realisation: Leonhard Koppelmann
Ton und Technik: Gerhard Wicho, Daniela Röder
Regieassistenz: Stefanie Ramb
Besetzung: Andrea Fenzl
Redaktion: Katarina Agathos
BR 2016, Länge: 159'08

Als CD erschienen bei intermedium records

Frank Witzel, geb. 1955 in Wiesbaden, Autor, Essayist, Zeichner, Musiker. Für seinen Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969 erhielt er den Deutschen Buchpreis 2015 sowie den Robert Gernhardt Preis 2012. Weitere Veröffentlichungen u.a. Bluemoon Baby (2001), Revolution und Heimarbeit(2003), Vondenloh (2008).


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