WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Regionales
  3. Hamburg
  4. Asylgesuch abgelehnt: „Es gibt so viele, die versuchen, sich umzubringen“

Hamburg Asylgesuch abgelehnt

„Es gibt so viele, die versuchen, sich umzubringen“

Ein junger Afghane lebt seit gut zwei Jahren in Deutschland. Er will sein Abitur machen, studieren. Doch sein Asylantrag wird abgelehnt. Für seine Betreuerin ist es ungeheuerlich, Afghanistan als sicher zu bezeichnen.

Amir ist ein aufgeschlossener junger Mann. Freundlich, will sich integrieren: Er organisiert einen Jugendklub für deutsche und ausländische Jugendliche, geht zur Schule und hilft als Dolmetscher aus. Herat sei seine Heimat, sagt er. „Aber jetzt fühlt es sich hier in Flensburg auch wie Heimat an.“ Eigentlich ist Amir ein Vorzeigeflüchtling. Aber er ist Afghane und älter als 18 Jahre.

Die Chancen auf Asyl sind für Afghanen drastisch gesunken. Lag die „bereinigte Schutzquote“ für Afghanen 2015 noch bei mehr als 75 Prozent, sind es inzwischen weniger als 50. Wenige Monate nach seinem 18. Geburtstag erhielt auch Amir im März die Antwort auf sein Asylgesuch: abgelehnt.

Wie fühlt sich das an? Amir sitzt in den Räumen der Flensburger Flüchtlingshilfe am Hafen. Er kommt gerade vom Jobcenter. Die drohende Abschiebung setzt ihm zu. „Am Anfang des Jahres war ich noch gut in der Schule“, sagt er bei einem Gespräch im Juni. „Im zweiten Halbjahr läuft alles schief.“ An die ersten Tage nach Erhalt des negativen Bescheids erinnert sich Amir nicht. Die Erinnerungen verschwimmen wie im Nebel. „Ich weiß nicht mal, ob ich in der Schule war oder nicht.“

Amir möchte zumindest eine Duldung erreichen

Eigentlich wollte Amir in Flensburg Abitur machen, später vielleicht Jura studieren. Doch die Ablehnung hat seinen Traum vorerst zunichtegemacht. Um seine Chancen auf Duldung zu erhöhen, sucht er nun eine Ausbildung, was für einen Flüchtling mit abgelehntem Asylantrag nicht ganz einfach ist. Mehr als 30 Bewerbungen habe er verschickt, sagt Amir. In vielen Fällen kamen Absagen, einige Betriebe hätten gar nicht geantwortet. „Hoffnungslosigkeit“ ist das Wort, das ihm zu seiner Situation einfällt.

Geflüchteter Afghane
Vor der Abschiebung: der aus Afghanistan stammende Amir
Quelle: dpa

Amir möchte zumindest eine Duldung erreichen. Er könne im kommenden Jahr wahrscheinlich eine Ausbildung bei einer Bank anfangen, erzählt er im Oktober. Dann könnte er sicher die nächsten fünf Jahre in Deutschland bleiben. Zunächst geht er jetzt weiter auf ein berufliches Gymnasium und verfolgt sein eigentliches Ziel, das Abitur zu erreichen. Die elfte Klasse muss er nach dem Schock mit der Ablehnung wiederholen. Am liebsten wäre es ihm natürlich, wenn das Verwaltungsgericht in Schleswig entscheidet, dass er bleiben dürfe. Wann sein Fall verhandelt wird, ist noch nicht klar. „Ich habe noch keinen Termin.“ Das Warten und die Unsicherheit gehen weiter.

Amir lebt seit gut zweieinhalb Jahren in Deutschland. Im Februar 2015 kam er nach monatelanger Flucht aus seiner Heimatstadt Herat im Westen Afghanistans mit seinen Eltern hier an. Für ihn war es bis dahin unvorstellbar, sein Land zu verlassen. „Wir hatten eigentlich ein normales Leben.“ Dachte er.

Bis ihn sein Vater plötzlich nicht mehr zur Schule lassen will. Bis ein Wagen vor dem Haus der Familie stoppt, sein Vater mit einer Schusswaffe bedroht wird. Amir holt Hilfe, nach einigen Minuten war das Auto weg. Er habe seinen Vater gefragt, was los war, „was er mir gesagt hat, war wenig“. Später wird ihm klar, die Taliban wollten seinen Vater zwingen, für sie zu arbeiten. „Weil er es nicht wollte, wurden wir bedroht.“

Die Familie entschließt sich zur Flucht. Sie fahren mit einem Taxi in den Iran. „Und da fängt meine Fluchtgeschichte an“, sagt Amir. Sechs Monate dauert die Odyssee: Vom Iran geht es über die Grenze in die Kurdengebiete der Türkei bis nach Istanbul. „Ich vergesse das nie. Wie waren in einem normalen Van, der für zehn Personen Platz hat. Wir waren mit ungefähr 35 Personen darin, wir konnten nicht atmen.“ Irgendwann kommt die Familie in Griechenland an, Amirs Mutter erhält die Chance, direkt mit einem Auto nach Deutschland zu fahren, sein Vater und er selbst hatten „einen katastrophalen Weg“, sagt Amir. „Ich habe zu viele Tote auf der Strecke gesehen.“

„Diese Zeit, die Amir in der Luft hängt, ist nicht zumutbar“

Anzeige

Benita von Brackel-Schmidt redet sich in Rage, wenn sie von dem abgelehnten Asylgesuch spricht, dem Warten auf einen Gerichtstermin: „Diese Zeit, die Amir in der Luft hängt, ist nicht zumutbar.“ Die Flensburgerin engagiert sich ehrenamtlich bei Refugees Welcome Flensburg und kümmert sich um mehrere junge Afghanen. „Es gibt so viele, die versuchen, sich umzubringen.“ Für die Grünen-Politikerin ist es ungeheuerlich, Afghanistan als sicher zu bezeichnen, Menschen dorthin zurückzuschicken.

Denn der Konflikt mit den Taliban hat sich verschärft. Täglich gibt es Anschläge, die speziell die Zivilgesellschaft treffen. Angesichts des Wiedererstarkens der Islamisten steigt die Anzahl der US-Luftangriffe auf Taliban und IS seit Monaten rasant, wie aus einer Statistik der US-Luftwaffe hervorgeht. Die Bundesregierung erklärt dagegen, es gebe im Land durchaus sichere Gebiete.

Für Amnesty International stellt jede Abschiebung nach Afghanistan einen Verstoß gegen das Völkerrecht dar. 2016 sind dort nach Angaben der Menschenrechtsorganisation so viele getötete und verletzte Zivilisten dokumentiert worden wie seit 2009 nicht mehr. Trotzdem seien im gleichen Zeitraum aus der EU rund 10.000 Afghanen abgeschoben worden. Deutschland hat 2016 laut Bundesinnenministerium 324 Afghanen zwangsweise in ihre Heimat zurückgeschickt. In der ersten Jahreshälfte 2017 waren es 261.

Und auch wenn Deutschland nach den Anschlägen nahe der deutschen Botschaft in Kabul Ende Mai mit mindestens 150 Toten derzeit nur Gefährder und Straftäter abschiebt, haben viele abgelehnte Afghanen Angst, in ein Flugzeug nach Kabul gesetzt zu werden. „Es ist nicht angekommen in den Köpfen, dass zurzeit nicht abgeschoben wird“ sagt von Brackel-Schmidt. Zumal es ja keinen offiziellen Abschiebestopp gibt.

dpa

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema