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Sascha Lobo

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Mob und Gegenmob

Als Antwort auf den Kölner Silvestermob ist eine Welle der Empörung im Netz losgebrochen. Dabei schert sich ein Großteil der Öffentlichkeit wenig um sexuelle Gewalt. Außer sie kommt von "nordafrikanisch oder arabisch aussehenden" Männern.

Die "Ereignisse in Köln" zu Silvester, so tippt man flugs auf einer Tastatur (Privatleute) oder sagt es in ein Mikrofon (Politik, Funktionäre) und hat damit schon den ersten Fehler gemacht, weil "Ereignisse" so passiv wirkt, so schicksalhaft. Das waren keine Schicksalsereignisse, es waren sexuell gewalttätige Angriffe von Männergruppen auf Frauen. Und wenn die Zahlen und Schilderungen zutreffen, dann kann man einen Begriff verwenden, der im sozialen Kontext zum hässlichsten gehört: Mob.

Ein Mob ist eine Ansammlung von Leuten, die eine eigene soziale Dynamik entfaltet, in der mehr oder weniger alle anderen Regeln ignoriert werden, was entsprechend häufig in Gewalt mündet. Ein Mob ist ein mobiler, temporärer, rechtsfreier Raum. Aufgespannt unter denjenigen, die für den Moment den dünnen Firnis der Zivilisation abblättern lassen.

Soziale Medien, allen voran Facebook und WhatsApp, haben in Deutschland ein komplexes Bündel von Funktionen eingenommen. Sie bilden gleichzeitig zersplitterte Gegenöffentlichkeiten sowie Dokumentations-, Diskussions- und auch Organisationsplattformen. Das hört sich neutral bis supergroßartig an, und das ist es manchmal auch, aber nicht immer. Denn anlässlich der Attacken zu Silvester in Köln lässt sich nachvollziehen, wie sich Online-Mobs bilden. Und es lässt sich abschätzen, wie sie aus dem Netz in die dingliche Welt hinein eskalieren.

Es ist nicht so einfach, wie viele Leute es gern hätten

Wie die Angriffe von Köln in den sozialen Medien wahrgenommen, diskutiert und verarbeitet werden, wäre ein Dutzend katastrophensoziologische Studien wert, aber am Anfang stehen die Geschehnisse in Köln selbst.

Was dort genau geschehen ist, lässt sich - zumindest noch - nicht so einfach sagen, wie viele Leute es gern hätten, weil es ihnen in diesen oder jenen politischen Kram passt. Wertet man die bisherigen Erkenntnisse aus, Videos vom Geschehen, Medien- und Polizeiberichte, Zeugenaussagen, und hält man die sinnvolle, vorsichtige Distanz dazu ein, bekommt man folgendes Bild:

Die Polizei spricht dabei anhand vieler übereinstimmender Zeugenaussagen von "nordafrikanisch oder arabisch aussehenden Männern" , sowohl bei der großen Gruppe wie auch der Tätergruppen. Mit dieser Information beginnt ein gesellschaftlicher Kommunikationsprozess, der fast ausschließlich aus Abgründen und Fallstricken besteht.

Denn ja, es gibt ein problematisches Frauenbild in islamisch geprägten Kulturkreisen. Und ja, man muss untersuchen, wie dieses Frauenbild auch in Deutschland in Gewalt mündet. Erst recht, wenn Mobs entstehen, die damit im Zusammenhang stehen könnten (Achtung, Möglichkeitsform).

Es ist auch legitim und notwendig, die kulturelle Prägung der Tätergruppen in die Untersuchung miteinzubeziehen, alles andere wäre kontraproduktive Augenwischerei, denn Mobs bestehen aus der explosiven Verstärkung bereits vorhandener sozialer Strömungen. Das ist der Grund, weshalb deutsche Mobs ausländisch aussehende Menschen jagen, ein soziokulturell vorhandener Rassismus detoniert. Für einen soziokulturell vorhandenen Sexismus ist das ebenso vorstellbar.

Welle rassistischer Empörung ist losgebrochen

In diesem Kontext ist aber essenziell, zu unterscheiden zwischen den Kölner Tätern und denjenigen, die vermeintlich so aussehen wie die Kölner Täter. Hier ist der Scheidepunkt, und er ist schmerzhaft, weil Differenzierung nur eine Armlänge von Verharmlosung entfernt ist. Und weil die berechtigte Erschütterung über die Angriffe zu Wut führt, also der am wenigsten nach Hintergründen und Zusammenhängen fragenden Emotion. Und trotzdem bleibt sie zwingend notwendig, denn Differenzierung ist Zivilisation .

Zivilisiert zu sein bedeutet, nacheinander neun Schwarzhaarigen zu begegnen, die sich alle als Arschlöcher erweisen, und trotzdem dem zehnten Schwarzhaarigen nicht deshalb in die Fresse zu hauen. Es gibt nicht den einen Auslöser, nach dem Rassismus plötzlich okay ist. Wer angesichts der Kölner Attacken überlegt, ob rassistische Verallgemeinerungen vielleicht doch okay sind, war schon vorher Rassist und hat sich bloß nicht getraut, das zu kommunizieren.

Hier kommen die sozialen (und ein Teil redaktioneller) Medien ins Spiel. Denn folgend auf die Silvestermobs ist im deutschsprachigen Internet eine mir bisher einzigartig erscheinende Welle rassistischer Empörung losgebrochen, die alle Elemente eines digitalen Mobs beinhaltet:

  • eine radikale, menschenfeindliche Pauschalisierung (die von Kölner Straftätern auf sämtliche ähnlich aussehende Menschen schließt, zum Beispiel Flüchtlinge)
  • eine sich verstärkende Enthemmung, bei der ein gegenseitiges Aufschaukeln stattfindet (jede rassistische Grenzüberschreitung verschiebt die Grenze des akzeptabel Erscheinenden etwas weiter)
  • die Verbreitung eines quasi-apokalyptischen Gefühls zur Rechtfertigung von radikalisierten Gedanken und Handlungen
  • Aufrufe und konkrete Planungen zu Racheakten und Gewalttaten
  • verbunden mit Gewaltdrohungen gegen Leute, die sich den Mob-Mechanismen entgegenstellen

So scheinen sich im Netz Rechtsradikale verabredet zu haben , um in Köln Jagd auf Ausländer zu machen. Ein Mob wird mit einem Gegenmob beantwortet, das ist das zivilisatorische Worst-Case-Szenario. Besonders verräterisch sind die zugleich rassistischen wie sexistischen Aufrufe, nach Köln zu fahren, um vorgeblich "unsere Frauen zu schützen". Wenn jetzt exakt diejenigen, die sonst ganzjährig fordern, Frauen sollten gefälligst die Bluse zumachen, auf Frauenrechte pochen - dann ist das instrumenteller Rassismus.

Das plötzliche Interesse an Frauenrechten ist gespielt und nichts als ein vorgeschobenes Argument, um den eigenen Rassismus zu legitimieren. Die Verharmlosung sexueller Gewalt ist allgegenwärtig und tief in die - ja, auch die deutsche - Gesellschaft und Kultur eingebrannt. Die Kölner Angriffe von Männermobs auf Frauen wären eine sehr passender Anlass, um sich dieser Tatsache zu stellen und herauszufinden, weshalb ein großer Teil der deutschen Öffentlichkeit sich erschütternd wenig um sexuelle Gewalt schert - außer sie kommt von "nordafrikanisch oder arabisch aussehenden" Männern.

Jetzt muss nach Strukturen gefragt werden

Damit geht einher, dass die Forderung nach einer "Härte des Rechtsstaats" eine Nullforderung ist, weil sie selbstverständlich sein sollte und zudem außerordentlich preisgünstig ist. Härte kostet nichts.

Stattdessen muss nach den Strukturen und Narrativen gefragt werden: in islamisch geprägten ebenso wie in anderen Familien, im Bildungssystem, in den Behörden, in der Gesellschaft. Wie können solche Mobs entstehen über den offensichtlichen Basisgrund hinaus, nämlich der Ansammlung von alkoholisierten, sexistischen, verbrecherischen Männern hinaus? Wie gehen die Behörden eigentlich mit "polizeibekannten Intensivtätern" um?

Wie vermeidet man, dass sich rassistische Gegenmobs bilden, die losziehen, um Flüchtlingsheime anzuzünden, weil dort Leute wohnen, die so ähnlich aussehen wie Täter in Köln? Und schließlich die Kernfrage: Wie begegnet man dem (weltweiten, kulturübergreifenden, auch deutschen) Problem der Gewalt gegen Frauen, ohne so zu tun, als ginge es nur um ein paar Kölner "Antanztäter"?

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Foto: SPIEGEL ONLINE