Veganer glauben, moralisch überlegen zu sein. Sind sie das auch?

Es gibt viele gute Gründe, kein Fleisch zu essen. Veganer glauben sie zu kennen und erklären sie zu moralischen Prinzipien. Schaut man genauer hin, entdeckt man lediglich Widersprüche und Paradoxien in ihrer Haltung.

Damiano Cantone
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Fleisch, unverpackt: Blick in den Schlachthof in Oensingen. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Fleisch, unverpackt: Blick in den Schlachthof in Oensingen. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Im Jahre 1924 hörte der vierzehnjährige Donald Watson von einem Augenblick auf den anderen damit auf, Fleisch zu verzehren. Angeekelt von der Gewalt, die Tieren in jener Fabrik angetan wurde, in der er aufgewachsen war, machte er aus seinem Entschluss seinen Lebenssinn. So wurde Watson zu einem Aktivisten für die Tierrechte und prägte 1944 den Begriff «vegan» (indem er die ersten und die letzten Buchstaben von «vegetarian» zusammenzog). Damit beschrieb er einen Lebensstil, der konsequent jede Form der Ausbeutung von Tieren ablehnt.

Die Veganer übertrumpfen in der Tat die Vegetarier in der Konsequenz ihrer Haltung. Sie verzichten auf jedes Nahrungsmittel tierischen Ursprungs (also auch auf Milch, Honig und Eier) und ebenso auf jede andere Nutzniessung von Tieren. Der Veganismus hat eine stetige Verbreitung in unseren Gesellschaften erlebt, in den letzten zehn Jahren besonders akzentuiert. Die Regale der Supermärkte füllen sich mit veganen Produkten, vegane Restaurants spriessen wie Pilze aus dem Boden, und längst wird darüber diskutiert, ob Mensen zwingend ein veganes Menu anbieten müssen.

Vermeidung von unnötigem Leiden

Der Veganismus lehnt die Diskriminierung von Lebewesen allein aufgrund ihrer Artzugehörigkeit prinzipiell ab. Moralische Würde kommt demnach nicht nur den Menschen, sondern auch den Tieren zu. De facto besteht das Ziel von Ethik-Philosophen wie Peter Singer und dem jüngst verstorbenen Tom Regan darin, die Kategorien aufzuweichen, die heute die Menschen von den Tieren trennen und ihnen dadurch erlauben, Letztere nach Belieben auszubeuten.

Die Vertreter des Veganismus beharren einerseits darauf, es sei unrecht, Lebewesen Leid zuzufügen, das nicht notwendig sei. Anderseits behaupten sie, dass auch Tiere über einen moralischen Wert verfügen. Darum ist – erstens – jedes Verhalten, das dem Tier mittelbar oder unmittelbar nicht notwendiges Leid zufügt, moralisch verwerflich (einschliesslich Nutzniessung jeder Art). Wenn jedoch – zweitens – das dem Tier zugefügte Leid notwendig ist (beispielsweise im Falle der Selbstverteidigung), so ist es moralisch gerechtfertigt.

Umgekehrt sind – drittens – das Angenehme, das Schöne und das Nützliche nicht notwendige Gründe für die Zufügung von Leid und also abzulehnen. Menschen sollten, anders gesagt, die Felle von Tieren nicht nutzen, noch Tiere als Begleiter von Kindern oder alten Menschen missbrauchen. Viertens haben die Tiere einen moralischen – und also rechtlichen – Status, der von jenem der Gegenstände klar und deutlich zu unterscheiden ist. Sie sind – fünftens – genau wie die Menschen empfindungs- und leidensfähige Wesen. Dies bedeutet, dass Tiere nicht als blosse Objekte behandelt werden dürfen.

Paradoxien des Verhaltens

Der Veganismus stellt eine Ausprägung des ethischen Rationalismus dar, dem jede mystische oder religiöse Anwandlung fremd ist. Der Vorteil dieses Selbstverständnisses liegt auf der Hand. Er erlaubt den konsequenten Veganern, sich von allem Sektiererischen und Modischen zu distanzieren. Sie glauben vielmehr ein verallgemeinerbares ethisches System zu vertreten. Nach ihren Prämissen gilt darum im Umkehrschluss auch: Wer Proteine tierischen Ursprungs zu sich nimmt, obwohl er nicht muss, handelt ethisch verwerflich. Damit wäre bewiesen: Veganer sind ethischer als andere Menschen. Aber stimmt das auch?

Dieses Räsonnement ist nicht so glasklar, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn werden die Gedanken zu Ende gedacht, führen sie zu selbstwidersprüchlichen Ergebnissen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Das Leiden ist eine Grundgegebenheit des Lebens und lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Der Imperativ zur Vermeidung von nicht notwendigem Leiden führt zum Aussterben der Menschheit.

Wer ein Kind in die Welt setzt, entscheidet sich aus freien Stücken dafür, ein Lebewesen dem nicht notwendigen Leiden auszusetzen (weil es eben ein Leben ohne Leiden nicht gibt). Wer sich also reproduziert, verstösst gegen das zugrunde liegende ethische System. Doch – zweites Paradox – gäbe es ohne Reproduktion und ohne das Leiden, das sie mit sich bringt, gar kein ethisches System, das verletzt werden könnte, da es die Welt nicht gäbe. Es sei denn, weiteres Paradox, der Veganer delegiere die Reproduktion an die Nicht-Veganer.

Die Position der Veganer ist darum irrational. Eine aus der reinen Lehre der Veganer hervorgegangene Welt existiert nicht – oder sie existiert bloss im Absolutismus religiöser Gedankenspiele. Darauf bauen die konsequenten Veganer ihre Ethik. Eine Welt ohne Menschen ist ihre religiöse Vision, der sie ihr irdisches Dasein unterordnen.

Egoistische Motive

Es würde wohl schon genügen, die Idee der «Notwendigkeit» durch jene der «Nützlichkeit» zu ersetzen. Dies wäre ein Akt intellektueller Redlichkeit, weil es logische Notwendigkeit in ethischen Belangen ohnehin nicht gibt. «Nützlichkeit» ist ein offen dehnbarer Begriff. Was unter einem «unnützen Leiden» zu verstehen sei, darüber müssten sich Menschen in harten Auseinandersetzungen verständigen. Aber es wäre ein produktives Ringen zugunsten der Tiere.

An der zweiten Grundannahme liesse sich derweil ohne weiteres festhalten. Wenn die Tiere einen moralischen Wert haben, so liesse sich daraus vernünftigerweise ableiten, dass es sich lohnt, sich für eine Verbesserung der Haltung der Tiere einzusetzen.

So sehr wir es auch bedauern mögen: Wir leben in einer Welt, die nichts mit der glasklaren Reinheit einer ethischen Wahl zu tun hat. Es gibt viele gute Gründe, kein Fleisch zu verzehren. Aber keiner ist per se ethisch und verallgemeinerbar. Wer so denkt, denkt am Ende dennoch bloss an sich – er will sich anderen Menschen, die Fleisch essen (oder es bloss aus niederen Motiven nicht tun), überlegen fühlen. Das ist wohl zutiefst menschlich, aber alles andere als moralisch.

Damiano Cantone ist Dozent für Philosophie an der Universität Triest und Gymnasiallehrer. Übersetzung aus dem Italienischen: rs.