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Der Flüchtling an der Rad-WM

Badreddine Wais auf der Offenen Rennbahn in Oerlikon, wo er auch regelmässig Rennen bestreitet. Foto: Dominique Meienberg

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Wer sich selbst bei dem garstigen Wetter aufs Rennvelo schwingt, verfolgt grosse Ziele. Es ist ein Samstagnachmittag im Winter, Januar 2015. Louis Flepp fällt beim Kreisel in Wädenswil ein anderer Radsportler auf. «Ein komischer Typ», denkt Ultraradfahrer Flepp, «ohne ­adäquates Tenü», und setzt seine Fahrt fort. Wenig später überholt ihn der «Typ». Aus irgendeinem Grund spricht Flepp ihn an – «was ich sonst nie mache».

Der andere, das ist Badreddine Wais, ein syrischer Flüchtling, der sich vom Winter und mangelnder Ausrüstung nicht von seiner Passion abhalten lässt. Wais erzählt Flepp von seiner Herkunft – er wuchs in Aleppo auf – und landet damit einen Volltreffer: Flepp arbeitete einst in der Reisebranche, besuchte ­dabei die Stadt und Syrien mehrfach.

«Darum hat es gefunkt», sagt Flepp heute. Sie bleiben in Kontakt, Flepp hilft Wais bald mit Radkleidern und -ausrüstung, und überhaupt damit, sich in der Schweiz zurechtzufinden. Vor allem sportlich, denn Wais sieht sich als Radprofi. Er nennt Flepp «Captain», dieser Wais «Ahmed», nach dessen zweitem Vornamen – so halten sie es bis heute.

Für Velorennen reist er mit dem ÖV in der ganzen Schweiz umher, in den Jura wie ins hinterste Emmental.

Wais war Radprofi, zu Hause in Syrien. Mitglied der Nationalmannschaft, seit den Junioren, insgesamt während sechs Jahren. In Damaskus studierte er daneben Sport, auch noch nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs. Trainierte weiter, so gut es ging. Bis es dann wegen der Umstände irgendwann nicht mehr ging.

Dieser Punkt ist für ihn 2014 erreicht. Seine Familie hat er zu dieser Zeit schon ein Jahr nicht mehr gesehen, aus dem vom Krieg mit am stärksten getroffenen Aleppo ist sie schon 2013 in die nahe Türkei geflüchtet. Ein weiterer Punkt, der den Fluchtentscheid beeinflusst: Als Athlet des Nationalkaders wird er automatisch in die Nähe des Regimes von Präsident Assad gebracht, was Wais nicht will. Überhaupt will er von der Politik nichts wissen. Sondern radfahren.

Im Juli 2014 macht er sich auf den Weg, mit einem Auto verlässt er Damaskus Richtung Westen, ins drei Stunden entfernte Beirut, der Hauptstadt von ­Libanon. Von dort reist er per Schiff in die Türkei, trifft seine Familie. Sicher fühlt er sich aber auch da nicht. Deshalb besteigt er bald das nächste Schiff, von ­Istanbul nach Athen. Dort bucht er einen Easyjet-Flug nach Genf – und ist selber überrascht, wie problemlos das klappt.

Italiener oder Spanier?

Erst wohnt er bei einem Landsmann in Lausanne, dann meldet er sich als Flüchtling an, kommt in den Kanton Schwyz. Nun beginnt das Warten. Das Warten auf den Entscheid über sein ­Aufenthaltsbegehren. Wais hängt nicht herum, im Gegensatz zu vielen Landsleuten weiss er etwas mit der freien Zeit anzufangen: Er unternimmt lange Ausfahrten. Trifft er einen anderen Radsportler, spricht er ihn an, er hat an der Universität etwas Englisch gelernt. Nicht immer glauben sie ihm seine Geschichte. «Mit meinem Aussehen halten mich die Leute oft für einen Italiener oder Spanier», sagt Wais und muss lachen. Wenn er ihnen dann aber online Resultate aus seiner Radzeit in Syrien zeigt, ist das Staunen oft gross.

Überhaupt versteht er, auf die Leute zuzugehen. Die Offenheit ist vielleicht seine entscheidende Qualität – wie dann auch die Begegnung mit Louis Flepp an jenem Januarsamstag 2015 zeigt.

Nach der WM will er sich wieder auf die Ausbildung konzentrieren: Badreddine Wais. Foto: Dominique Meienberg

«Der Sport hat ihm definitiv geholfen», sagt auch Markus Cott, der Integrationsdelegierte des Kantons Schwyz und damit Wais' erste Ansprechperson. Cott wird erst durch Landsleute von Wais, die ihn als Radsportler in der Heimat kennen gelernt hatten, auf diesen aufmerksam.

Wais findet auch an anderen Stellen Hilfe. Ein Schweizer Rennfahrer, den er Jahre zuvor an der Aserbeidschan-Rundfahrt kennen gelernt hat, sieht auf Facebook, dass dieser in der Schweiz weilt – und kontaktiert ihn in der Annahme, Wais sei als Radsportler im Land. Später hilft er ihm, vermittelt Wais unter anderem zum Vigorelli-Radsportteam aus dem Raum Winterthur.

Dass Wais sogleich wieder zum Radsport findet, ist sein Glück. Für Rennen reist er mit dem ÖV in der ganzen Schweiz umher, in den Jura wie ins hinterste Emmental. «Ich kenne das Land wahrscheinlich besser als viele Einheimische», sagt er. Auf einen unbekannten syrischen Flüchtling hat aber niemand gewartet. Nicht nur deshalb ist das ein harter Prozess. Wais muss auch erkennen, dass sich das Schweizer Niveau nicht mit jenem in der Heimat vergleichen lässt. Hier starten schon an den kleinen Rennen viele Fahrer mit ähnlichen Fähigkeiten wie er.

«Mein Ziel ist es immer, das Unmögliche anzustreben. Es sollen nicht alle Flüchtlinge als Tellerwäscher enden.»

Markus Cott, Integrationsdelegierter

Trotzdem hat er allen bald ­etwas ­voraus: den Start an einer Elite-WM. Morgen Mittwoch ist es so weit, Wais tritt im syrischen Trikot zum WM-Zeitfahren in Bergen an. Es ist die Erfüllung eines Traumes, den er schon träumte, als er noch in Syrien lebte. Damals setzte er sich die Olympischen Spiele in Rio als Ziel. Nun erfüllt sich das Rendez-vous mit der Weltelite ein Jahr später.

Dass er mit Chris Froome, Tom ­Dumoulin oder Stefan Küng nicht mithalten wird, ist ihm völlig klar. Trotzdem hat er sich ein Ziel gesteckt, das über den Start an sich hinausgeht: «Ich möchte schneller sein als die vor mit ­Gestarteten. Damit ich auf dem Leaderstuhl Platz nehmen kann – auch wenn es nur fünf Minuten sind», sagt Wais.

Das nächste Ziel: Magglingen

Er erzählt dies vergangene Woche, bei sich z­u Hause in Pfäffikon SZ. Mittlerweile bewohnt er hier ein WG-Zimmer. Er erzählt seine Geschichte, die ihn hierhergebracht hat. Und nun an die Rad-WM. Jene Idee ist relativ spontan entstanden, auch auf Initiative des Thalwiler Teams Tempo-Sport, für das er seit dieser Saison fährt. Der syrische Verband war ­sogleich bereit, ihn für Bergen zu melden, Flucht hin oder her. «In Syrien hat man mich nicht vergessen», sagt Wais.

Das Rennen wird sein Karrierehöhepunkt sein. Und wohl auch bleiben. Der 26-Jährige ist sich bewusst worden, dass die Idee vom Radprofi sich in der Schweiz kaum realisieren lassen wird; hier können nur die Allerbesten vom Radsport leben. In Magglingen machte er darum im Sommer die Aufnahmeprüfung fürs Sportlehrerstudium, auf Betreiben seines Betreuers Cott hin. «Mein Ziel ist es immer, das Unmögliche anzustreben, um etwas Mögliches zu erreichen», sagt dieser. «Es sollen nicht alle Flüchtlinge als Tellerwäscher enden.»

Um überhaupt zur Prüfung antreten zu dürfen, musste Wais verschiedene Auflagen erfüllen. Er absolvierte den Nothelferkurs, das Rettungsschwimmerbrevet, musste ein gewisses Deutschniveau vorweisen können. Entsprechend gut spricht er denn auch Hochdeutsch, charmant durchsetzt mit Mundartausdrücken, im Intensivunterricht gelernt, seit er Anfang 2016 die B-Aufenthaltsbewilligung erhalten hat.

Nach der WM will er sich wieder auf die Ausbildung konzentrieren. Und in einem Jahr noch einmal in Magglingen antreten. Wenn das nicht klappt, gäbe es immer noch die Option Fitnessinstruktor. Bis dahin arbeitet er im Spar-Supermarkt um die Ecke – und fährt weiter Rad. «Er ist eines der ermutigenderen Beispiele», sagt sein Betreuer Cott.