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Der Zauberer von Lodz

Literaturwanderer zwischen den Sprachwelten: Karl Dedecius, der große Vermittler zwischen Deutschen und Polen, ist gestorben

Eine Generation verlässt die Bühne; was bleibt, ist Literatur. Wird diese in andere Sprachen übertragen, wird sie Weltliteratur. Der polnische Lyriker Tadeusz Rozewicz hat beschrieben, was durch die Übersetzung geschieht: „dann / tragen meine gedanken / früchte / in deiner sprache“.

Rozewicz richtete diese Worte, dieses Gedicht in tiefer Freundschaft an seinen Übersetzer Karl Dedecius. Beide wurden 1921 in Polen geboren; fast gleichzeitig also mit dem später von Roman Bratny geschaffenen Romanhelden Kolumb (Kolumbus). Daher nennt man diese Altersgruppe im Plural die „Kolumbowie“. Es waren jene jungen Männer, die, um 1920 im neuen Polen geboren, vor dem nächsten Kriegsausbruch zumeist noch Abitur machten und dann in großer Zahl in Besatzungsterror, KZ und Widerstand verbluteten.

Aber Dedecius, in ein deutsch geprägtes Elternhaus in Lodz hineingeboren, war schon früh ein Wanderer zwischen den Welten. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, als er auf seinen Gestellungstermin zum Reichsarbeitsdienst wartete, kam er zu seiner ersten, recht trivialen Übersetzertätigkeit: In der Musterungsbehörde musste er polnische Dokumente ins Deutsche bringen. 1941 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und diente, der musikalischen Begabung wegen, als Tambourmajor in Frankfurt an der Oder. Wenig später dann Stalingrad. Sowjetische Gefangenschaft. Sieben Jahre Russland; Dedecius sollte diese Zeit in seiner Autobiographie („Ein Europäer aus Lodz“) später eindringlich beschreiben.

Auch im Lager widmete er sich, so gut es ging, dem Übersetzen und der Literatur, damals vor allem der russischen. Als er schließlich freikam, führte ihn das Schicksal über die DDR in die Bundesrepublik. Hier begann er eine jahrzehntelange Tätigkeit bei der Allianz-Versicherung – sein berufliches Standbein, während sein Spielbein das Übersetzen werden sollte. Bis auf weiteres: Denn 1980 gründete Dedecius in Darmstadt das bis heute bestehende Deutsche Polen-Institut, das er bis 1997 leitete.

War diese Gründung seine größte Leistung? Oder war es nicht vielmehr die oft kongeniale Übertragung Tausender Gedichtverse ins Deutsche? Dazu die Herausgabe zahlloser polnischer Romane, die Initiierung des „Jahrbuchs Polen“, Veröffentlichungen zu Geschichte und Kultur, das siebenbändige „Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts“, das von Aphorismen bis zu Romanfragmenten einen Überblick bietet? Ein besonders dickes Brett war die 1982 begonnene Herausgabe der „Polnischen Bibliothek“ im Suhrkamp Verlag: 50 schön gestaltete Bände Literatur aus neun Jahrhunderten. Diese Bibliothek ist zum Vorbild für die „Tschechische“ und die „Türkische Bibliothek“ geworden – Großprojekte, die alle ohne die Förderung der Bosch-Stiftung kaum zustande gekommen wären.

Auch für sein Institut hat der liebenswürdige, beharrliche und diplomatisch geschickte Dedecius früh Unterstützer gefunden: Helmut Schmidt und Marion Gräfin Dönhoff. Mit Marcel Reich-Ranicki, wie Dedecius privat Bürger Frankfurts und ein Kenner von Polens Literatur, verband den Übersetzer über mehr als 50 Jahre eine nicht ganz spannungsfreie Beziehung. Mit vielen Schriftstellern und Dichtern, ob in Polen oder im Exil, zum Beispiel mit Wisława Szymborska, pflegte Dedecius regelrechte Freundschaften. Die Lyrik war seine große Liebe. Außerdem ist es großenteils sein Verdienst, wenn Stanisław Jerzy Lec, der Aphoristiker, mit 1,5 Millionen verkauften Büchern im deutschen Sprachraum zum erfolgreichsten polnischen Autor wurde.

Das Institut, klein, aber fein, lebt und wächst und wird weiter gebraucht: Vorige Woche begann es, umsichtig vom Politologen Dieter Bingen geleitet, den Umzug aus den zwei wunderschönen Jugendstilvillen auf der Darmstädter Mathildenhöhe in das Residenzschloss der Stadt. „Die Fachbibliothek bleibt bis Ende März geschlossen“, lasen wir kürzlich auf seiner Internetseite. Und jetzt leider auch dies: Am Freitag ist sein Gründer Karl Dedecius, „einer der letzten Vertreter der Kriegs- und Versöhnungsgeneration“, mit zahllosen Auszeichnungen geehrt, im Alter von 94 Jahren in Frankfurt gestorben.

„Polens Weg nach Europa führt über Deutschland“, sagte kurz nach 1989 der Schriftsteller Andrzej Szczypiorski. Und Außenminister Krzysztof Skubiszewski formulierte damals programmatisch, Polen verbinde mit dem geeinten Deutschland eine „Interessengemeinschaft“. Kürzlich behauptete jemand – nicht ganz zu Unrecht –, von dieser Gemeinschaft sei 2016 so gut wie nichts mehr übrig. Eine schreckliche Diagnose.

Europa wird Kulturdolmetscher wie Karl Dedecius wieder dringend brauchen. Aber gerade zwischen Deutschen und Polen ist jemand wie dieser Zauberer von Lodz weit und breit nicht zu sehen. Die Kriegsgeneration tritt ab, Europa ist von Krisen und Kriegen erschüttert und gespalten: wieder eine Stunde Null.

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