Er hatte eine große Hand. Bei den alten Löwen der Literatur und der Lebenskunst heißt es meist: eine Pranke. Aber Tankred Dorsts Hände waren auch überraschend zart. Sie konnten als Begleitung der Rede einen luftigen Schatten werfen, konnten so modellieren und streicheln. Beim Schreiben, das immer zuerst von Hand geschah, geriet in seiner energisch weichen, fast musikalisch geschwungenen Schrift selbst das Katastrophische noch ins Schweben, war ein Höllensturz noch ein Himmelsflug, nur eben abwärts, weil alle große Dichtung ihren Grund im Abgründigen hat. Im Bodenlosen oder als Ritt auf dem schmelzenden Eis, als Tanz auf Messers Schneide oder auf jenem dünnen Seil mit dem Namen Existenz.

Pathos-Stoffe, Krieg und Frieden, Liebe und Tod, waren ihm vertraut, doch alle Pathetik blieb ihm fern. Er besaß die Kunst, die laut Brecht die größte ist: das Schwere leicht zu machen. Auch in Person. Tankred Dorst hatte die Anmut eines sanften Riesen, er war eine Erscheinung, mit seinem mächtigen, noch im Alter füllig weißen Lockenhaupt und dem massigen, doch graziösen Körper.

Einmal, da war er schon an die achtzig, hatten wir uns nach einem gemeinsamen Theaterbesuch in Mailand nachts in Regen und Nebel verlaufen, fanden das mit Freunden verabredete Lokal nicht mehr und landeten schließlich überhungert im letzten offenen Laden, einem scheußlich lauten Fastfoodschuppen. Freund Tankred ließ sich dort nieder, bestellte eine Pizza und er, der über Weltuntergänge geschrieben und mindestens einen, Wagners Ring in Bayreuth, inszeniert hatte, sagte mit seinem oft hintersinnigen Lächeln nur: "Alles ist gut."

Das Heil im Unheil suchen

Wahre Literatur, hat Böll einmal notiert, ist untröstlich, aber nicht trostlos. Auch in Dorsts Welt und in seiner Gegenwart lag im Wort Unheil zugleich das Heil, umfing die Tragödie die Schwester Komödie. Eines seiner nicht so berühmten Stücke heißt Wegen Reichtum geschlossen. Dazu hatte ihn irgendwo ein absurdes Türschild inspiriert. Das dazu vor zwanzig Jahren erschienene Suhrkamp-Buch zeigt ein Umschlagbild von Johannes Grützke, auf dem Menschen in Geldbündeln baden. Oder von ihnen erschlagen werden. Der Untertitel des in Schuld und Schulden, im Tränenlachen endenden Stücks lautet Eine metaphysische Komödie. Johannes Grützkes Tod vor wenigen Tagen hatte Tankred Dorst noch erfahren. In einem Bamberger Barockhaus, das Ursula Ehler-Dorst, seine musische fränkische Ehefrau und so lange beflügelnde Mitarbeiterin, geerbt hat, hängen noch die grandios grotesken Bühnenprospekte für gemeinsame Projekte.

Von Bildern als Inspiration für seine Imagination ist Tankred Dorst oft ausgegangen, davon erzählt etwa die kleine, feine Broschüre der Berliner Festspiele, die 2015 anlässlich einer Feier und Ausstellung im Festpielhaus zu Dorsts 90. Geburtstag erschien. Auch sein letztes Stück, 2016 bei den Ruhrfestpielen in Recklinghausen uraufgeführt, hieß so bildhaft wie doppelsinnig Das Blau an der Wand. Als er schließlich mit Ursula 2013 von München nach Berlin-Wilmersdorf zog, war in der neuen Wohnung neben dem Schreibtisch vor allem der alte fränkische Apothekerschrank mit den Schubfächern für die geistige Medizin, nämlich den Manuskripten und Notizbüchern zu seinen Stücken, Filmen und Erzählungen, unterzubringen – nachdem ein Teil bereits als Vorlass ans Marbacher Literaturarchiv gegangen war.

Gegenüber dem Schrank hängt eine wohl aus dem frühen 19. Jahrhundert stammende farbige Holzmalerei. Das anonyme Werk zeigt Menschen als unergründlich koboldhafte, sich verlierende oder findende Reisende durch eine märchenhafte bäurische Welt. Ein Mirakel, naiv raffiniert, spukhaft, melancholisch heiter. Für das Dichterpaar Dorst ein wahres Sinnbild. Dort, in seiner Berliner Wohnung, ist der Schriftsteller, Theater-, Opern- und Filmregisseur am Donnerstag mit 91 Jahren gestorben.